Stadtspaziergang mit Jana Hensel: Berlins verlorene Mitte
Romanautorin Jana Hensel sitzt am liebsten unterm Fernsehturm und wohnt in Prenzlauer Berg. Dort erkennt sie den alten Osten kaum wieder.
Vor dem Friedhof bleibt sie stehen, die Zigarette in der Hand, in der Nase den Frischduft hoher Bäume. Sie erzählen noch von Berlins alter Mitte, die drum herum platt planiert worden ist und dann glattsaniert. Die neue Mitte soll das irgendwie sein, hier zwischen Schicki-Micki-Soho-House und Niemals-zu-Späti-Tankstelle an der Prenzlauer Allee, unweit vom unfertigen Riesenbausteinekasten Alexanderplatz, auf den die Straßenbahnen viel zu erwartungsvoll zurattern – vorbei an Jana Hensel, die jetzt einen Zug Stadtluft mit Nikotin einzieht und sich freut: „Der Übergang ist hier gar nicht gelungen, alles ist unfertig, passt nicht zusammen, das mag ich.“
Die 41 Jahre junge Autorin, die gleich um die Ecke wohnt, zwischen dem Norden von Glänzlberg und dem Süden von Postkarten-Mitte, ist auch auf der ständigen Suche nach ihrem Zentrum – wenn sie Bücher schreibt über die Liebe zwischen zwei Menschen in zwei Städten oder wenn sie durch ihren Kiez spaziert, der sich langsam selbst verliert vor lauter Wichtigschönseinwollen.
Hier am Friedhof am Prenzlauer Berg, an der unscheinbaren Pflasterstraße, die so heißt wie der Stadtteil, in dem alle wohnen wollen, die nicht hier wohnen, kommt sie sich selbst am nächsten. Und der Stadt, in der sie nun schon fast ihr halbes Leben lang wohnt: „Lass uns mal zum Fernsehturm gehen!“
Vom Fernsehturm hat jedes Kind im Osten geträumt. Schon weil man von hier aus in den Westen gucken konnte. Dann war das über Nacht nicht mehr wichtig. Aber der Fernsehturm ist geblieben, als Berlins schönste Erinnerungskarte.
Die Stimme aus der Zone
Jana Hensel ist über Nacht berühmt geworden. Mit ihrem Bestseller „Zonenkinder“ hat sie dem damals jungen Osten eine Stimme gegeben (auch wenn manche Tonlage dabei von ihrem „Wir“ verschluckt wurde); sie hat Leipzig verlassen, als es noch zu ostig war, um schon streberhaft sein zu dürfen. Hensel ist in Prenzlauer Berg gelandet, als es hier westlich wurde.
Ein paar Mal ist sie umgezogen, aber immer geblieben am Südhang des Berges, auf den die gleißende Sonne des Geldes scheint. Hinterm Kollwitzplatz geht’s weiter; hier in den ruhigen Seitenstraßen der Mystifizierung lebt sie mit ihrem zehnjährigen Patchwork-Sohn und vermietet noch ein Zimmer unter, damit sich das rechnet und sie nicht das tun muss, was hier viele meinen tun zu müssen.
„Ich wollte nie heiraten, ich wollte nie Eigentum. Für mich ist das Freiheit“, erzählt Jana Hensel. Doch inzwischen zählt sie wohl mehr, die Freiheit der Anderszahlenden. Hensel sitzt in einem Kiezcafé in der Immanuelkirchstraße, das noch ganz normalen Bohnenkaffee hat, ohne sich „Manufaktur“ zu nennen. Neben ihr auf der Straße finden gleich zwei Umzüge statt, riesige Kleiderschränke werden aufs alte Pflaster gewuchtet. Eine Kitagruppe läuft vorbei – den Kindern wurden für den Spaziergang über den Bürgersteig gelbe Warnwesten angelegt –, und ein kleiner Junge ruft: „Guck mal, da zieht wieder jemand aus."
Gentrifizierungsszenerie vor der Haustür
Da muss Jana Hensel laut lachen, das kann sie ausdauernd, ihre dunklen Locken wippen durchs Gesicht, ihre kleinen Hautlinien auf der Stirn machen mit – scheppernd amüsiert sie sich über die Gentrifizierungsszenerie vor ihrer eigenen Haustür, bis sie sagt: „Hab ich das nicht schön arrangiert?“
Erst nach dem nächsten Schluck Kaffee kommt der Ärger wieder aus dem Inneren, in das sich die hier allgegenwärtige Angst verkrochen hat. „Das ist hier schon lange keine normale Gentrifizierung mehr“, sagt Hensel jetzt trocken. „Wir befinden uns inmitten eines internationalen Spekulationsgeschäfts.“ Damals – wer weiß das noch? – gab es die Debatte um die Latte-Macchiato-Mütter, „da hatten alle noch die Illusion, irgendwas aufhalten zu können“, sagt Hensel.
Inzwischen tobe ein Krieg, leise und unbarmherzig: Wer fliegt als Nächstes? Das brennende Thema der Stadt kann die langjährige Journalistin Hensel (sie war in der Chefredaktion der Wochenzeitung „Freitag“ tätig und schreibt noch regelmäßig für die „Zeit im Osten“) schmerzgenau auf den Punkt bringen. Als Berlinerin, die sie nach 18 Jahren hier fast schon ist, nimmt sie es jeden Tag als flaues Gefühl mit nach Hause. „Wat willste machen?“, berlinert sie.
Wat willste machen?
Wat willste machen? Der Slang hat auch mit einer Stadt zu tun, die ihre Mitte zu verlieren droht. Gerade Ost-Berliner flüchten sich wieder zurück in den alten Dialekt, hat Jana Hensel beobachtet – vielleicht ja, weil sie sich manchmal selbst verlaufen im eigenen Kiez. „Ich habe damals eine Leipziger Verlorenheit gespürt, wegen der ich nach Berlin gezogen bin“, erzählt Hensel. Damals, 1999, versuchte sie sich erst im rotzigen Friedrichshain, dann fasste sie lieber Fuß am Fuße des Prenzlbergs – und blieb selbst, als zugezogene Immobilienbesitzer die Musikclubs der Wende ins Nirvana vertrieben.
„Ich habe mir eine Ost-Berliner Zuflucht gesucht, aber die verschwindet langsam und unsichtbar.“ Wie verloren müssen sich da erst alte Ost-Berliner fühlen, fragt Hensel. Wenn sie aus ihrem Wohnzimmerfenster guckt, sieht sie auf der anderen Seite der Straße neue Eigentumswohnungen.
„Lange dachte ich: Warum haben die Leute keine Blumen auf dem Balkon? Bis ich irgendwann merkte: Da wohnt gar keiner so richtig. Das ist nur ein Anlageobjekt, in dem manchmal Licht brennt.“ Vielleicht schlendert sie deshalb gerne hinüber zum Zentrum der früheren Hauptstadt der DDR: Lass uns mal zum Fernsehturm gehen!
Der neue Roman: "Keinland"
Berlins wahrstes Wahrzeichen ist auch zu sehen auf dem Cover von Jana Hensels neuem Roman „Keinland“, der in zwei Wochen im Wallstein Verlag erscheint und der mit einem Spaziergang durch Berlin beginnt: Nadja hat sich verliebt und schreibt einen langen Brief an Martin, den es lieber zurück nach Tel Aviv gezogen hat, lieber zurück in seine verlorene Heimat als zu ihr in die Berliner Mitte, in der auch sie nach sich sucht.
„Aus dem kleinen Friedhof in unserer Straße ist vor ein paar Jahren schon ein Spielplatz geworden, er heißt jetzt Leisepark, und ich bin mir nicht sicher, ob damit die Kinder gemeint sind oder die Toten“, schreibt Nadja, schreibt also Jana. Die Schriftstellerin läuft gerade durch den Leisepark, zwischen still tobenden Kindern und laut raschelnden Erinnerungen, sie schlängelt sich einen Weg entlang, Brennnesseln rechts, Grabgestrüpp rechts, und erzählt vom Alleinsein.
Jana Hensel hat sich selbst einsam gemacht, entkoppelt vom Nachdenken über andere, vom Journalismus also, hin zum Erfinden von inneren Begleitern – von Romanfiguren, die ein bisschen so sind wie man selbst und ein bisschen gar nicht so („Ich wäre gerne so wenig ehrgeizig wie Nadja“, sagt Jana). Einen Roman zu schreiben, das scheint nach Hensels Erzählung irgendwie asozial zu sein, zumindest für die eigene Umgebung.
Isolation für die Geschichten
„Man muss sich isolieren“, aus der eigenen Stadt und von eigenen Freunden lösen, um in sich selbst Figuren zu entdecken, ihnen Geschichten zu geben und dem Leben damit eine Geschichte, die erdacht ist und schillert, aber doch wahr sein kann. „Es ist berauschend, wenn die Geschichte durch dich hindurchfließt, wenn Nadja aus mir spricht“, erzählt Hensel, ganz verliebt in ihren ersten Liebesroman. Zwei Jahre lang hat sie an dem Geschichtenteppich geknüpft, in dem sich Nadja und Martin Stück für Stück verheddern. „Die alten Grabsteine hat man stehen lassen, und die Kinder können nun zwischen den Gräbern Vater, Mutter und Kind spielen“, schreibt Nadja an Martin. Und fragt dann nicht nur sich: „Aber kann man Gräber eigentlich verlassen? Kann man sich eigentlich einfach so aus dem Leben stehlen wie du?“ Jana Hensel, die Schriftstellerin, ist auch schon länger Single am Rande von Mitte in Berlin. „Hier sitze ich am liebsten“, sagt sie und lacht laut auf mitten auf dem lärmenden Alexanderplatz. Am früheren Brunnen der Völkerfreundschaft sitzen Leute, die zu viel Zeit oder keine Orientierung haben oder beides. Man schaut auf Trommler und Akrobaten, die es auf Touristen abgesehen haben inmitten eines von Menschen überfüllten, aber von Sinn entleerten Platzes.
Berlins verlorene Mitte
Hier war Jana Hensel oft als Zonenkind, "der Alex war doch unser Manhattan", und hier setzt sie sich immer noch gerne hin, zwischen die Leute, wenn sie was Äußerliches an einem Vorbeigehenden entdecken will oder auf ihre inneren Begleiter hören möchte. Das Manhattan des früheren Ost-Berlin ist zerklüftet wie manches hier herumhängende Gesicht – nur direkt unterm Fernsehturm ist es etwas schattiger.
Hier kurvt Jana Hensel manchmal mit dem Fahrrad um die weiten weißen Turmplanken, an denen nur die Tauben aufgeregt mit den Flügeln schlagen und nicht die Menschen. Hier, am Fuße von Berlins wahrstem Wahrzeichen, auf dem Boden ostdeutscher Kindheitsträume, unter dem Abziehbild des globalisierten Städtemarketings, hier im Zentrum der verlorenen Mitte von Berlin, gibt Jana Hensel zum Abschied die Hand: „Schön ruhig hier, wa?“