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Auch der Kinderschutzbund warnt vor den Folgen einer Corona-Testung in der Schule.
© imago/photothek
Exklusiv

„Psychologischer Drahtseilakt“: Berlins Schulpsychologen warnen vor Corona-Tests im Klassenzimmer

Ab sofort gilt eine Testpflicht für alle Berliner Schüler. Dem Protest von Lehrkräften und Eltern haben sich Schulpsychologen angeschlossen.

Als "psychologischen Drahtseilakt" hat der Verband der Berliner Schulpsycholog:innen die Corona-Testung an den Schulen bezeichnet. Die verpflichtende Testung an zwei Tagen pro Woche scheine "aus psychologischer Sicht nicht zu Ende gedacht". Insbesondere die Frage, wie mit denjenigen umgegangen werden solle, deren Testergebnis positiv sei, bleibe "sehr vage".

Zudem müsse man mit einem hohen Anteil falsch-positiver Ergebnisse rechnen. Der Landesverband hat in einer Stellungnahme vom Sonntag, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt, vorgerechnet, was das bedeuten könnte. Dabei beruft er sich auf eine aktuelle Publikation des Robert Koch-Instituts, wonach Corona-Schnelltests in ungefähr 4,3 Prozent aller Fälle ein falsch positives Ergebnis anzeigen.

Dies würde bedeuten, dass bei 100.000 Schüler:innen pro Testung 4.300 falsch positive Testergebnisse entstehen würden. Bei rund 450.000 Schüler:innen insgesamt in Berlin ergäbe sich statistisch gesehen eine Gesamtzahl falsch positiv getesteter Kinder und Jugendlicher von 19.350 pro Testung.

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"Das sind mehr als 19.000 Familien, die unbegründet in Quarantäne geschickt werden", schlussfolgert der Verband. Hinzu kämen "unnötige Ängste", für Schüler:innen, von denen jeder vierte oder fünfte im Schnitt ohnehin psychische Probleme habe.

Zwar gebe es diese falsch-positiven Testergebnisse auch bei Testungen zu Hause. Dort aber befänden sich die Schüler:innen im Schutz der Familie und würden nicht vor der Klasse damit konfrontiert.

"Wir sprechen uns klar für eine bestmögliche Verbesserung der physischen Sicherheit in den Schulen aus. Allerdings muss kritisch hinterfragt werden, wie dies bestmöglich gestaltet werden kann und ob das geplante Verfahren alternativlos ist und ob es den gewünschten und dringend benötigten Effekt von mehr Sicherheit wirklich zu bringen in der Lage sein wird", heißt es in der Stellungnahme weiter.

„Einer enormen Scham ausgesetzt“

Menschen jeden Alters sollten das Recht haben, "medizinische Diagnosen vertraulich und in einem sicheren Rahmen mitgeteilt zu bekommen", fordern die organisierten Schulpsycholog:innen. Dies sei keinesfalls gegeben, "wenn der zweite Strich auf der Testkassette im Klassenraum erscheint, wenn die Kinder von ihren Freund:innen und Klassenkamerad:innen umringt sind".

Auch der Kinderschutzbund weise eindringlich darauf hin, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Falle eines positiven Testergebnisses "einer enormen Scham ausgesetzt sind", mahnt der Verband. Wer jedoch die Ängste dieser Kinder in der Situation und im Nachhinein auffangen solle, bleibe offen. Ebenso sei ungeklärt, wie mit den Ängsten der begleitenden Lehrkräfte sowie der anderen Kinder der Lerngruppe umgegangen werden solle.

Zwar würden die Schulsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZe) als Ansprechpartner der Schulen genannt. Dem hält aber der Verband der Schulpsycholog:innen entgegen, dass jede/r Schulpsycholog:in in Berlin im Schnitt für 4700 Schüler:innen, deren Eltern und das Lehrpersonal an etwa sechs bis zehn Schulen zuständig sei.

Die Elternschaft plädiert für Wahlfreiheit beim Testort

Wenn die Bildungsverwaltung dennoch an diesem Verfahren in der aktuellen Situation festhalte, müssten Schulen zumindest die Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, ob die Tests zu Hause oder in der Schule stattfinden sollten. Dies hatten, wie berichtet, auch schon alle zwölf Bezirkselternausschüsse gefordert.

Im Laufe der Woche meldeten sich mehrere Schulen kritisch zu Wort oder appellierten an Bildungssenatorin Sandra Scheees (SPD), das Verfahren abzuändern. Aus mehreren Schulen war zu hören, dass sich die Schulkonferenzen gegen eine Testung in der Schule ausgesprochen hätten. Auch Ralf Treptow, der Vorsitzende der Vereinigung der Oberschuldirektoren, hatte betont, dass "jeder Test zu Hause verhindert, dass ein positiv getestetes Kind die Schule von innen sieht.“

Die Meinungen unter den Schulleiter:innen snd allerdings geteilt. Insbesondere aus Brennpunktschulen ist zu hören, dass die Lehrkräfte die Tests lieber selbst beaufsichtigen wollen, um sicher zu gehen, dass die Schüler:innen auch tatsächlich getestet sind.

Charité-Professor Frank Mockenhaupt, Mitglied des Hygienebeirats, hatte schon vor drei Wochen im Rahmen einer Schulleitersitzung auf dieses Problem hingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Scheeres allerdings noch deutlich gegen die Testung in der Schule ausgesprochen - mit Hinweis auf die Aerosole, die dann m Klassenzimmer umherfliegen würden, wenn die Schüler:innen beim Testen niuesen würden.

Es fehlen externe Begleiter für die Testung

Die Senatorin war dann aber von diesem Standpunkt abgewichen, weil der Senat die zuverlässige Testung in der Schule als wichtig erachtete, wenn ab diesem Montag alle Jahrgänge - erstmals wieder seit 15. Dezember auch die Siebt- bis Neuntklässler - wieder zum Wechselunterricht an den Schulen eintreffen.

Die SPD-Fraktion wollte als Kompromiss erreichen, dass Externe statt Lehrkräfte die Tests begleiten. Diese Forderung aber zog sie zurück, weil es diese Externen nicht in ausreichender Zahl gibt. Die Lehrergewerkschaft GEW hatte eine ähnliche Forderung erhoben.

Die Stimmung an den Schulen ist vor allem deshalb gereizt, weil selbst an Grundschulen noch nicht alle Beschäftigten geimpft sind. Die Beschäftigten der Oberschulen und Berufsschulen hatten, wie berichtet, ihre nahen Impftermine wieder verloren.

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