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Seelische Nöte bis hin zur Depression gehören zu den Begleiterscheinungen der Pandemie. Jugendliche sind besonders gefährdet.
© Imago

Die Folgen des Homeschoolings in Berlin: „Das ist Gift für die Entwicklung der Jugendlichen“

Schüler fühlen sich im Distanzunterricht nicht gesehen, haben Selbstzweifel, kapseln sich ab. Ein Gespräch mit dem Berliner Schulpsychologen Matthias Siebert.

Matthias Siebert ist Vorsitzender des Landesverbands Schulpsychologie Berlin e. V. und arbeitet im Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum (Sibuz) in Steglitz-Zehlendorf.

Herr Siebert, gerade veröffentlichte die Schülerinitiative „Bildungsgerechtigkeit 2021“ alarmierende Ergebnisse zur Lage der Schüler:innen. Haben die Befunde Sie überrascht?
Überhaupt nicht. Die Pandemie ist eine Krise, die viele Menschen aus dem Gleichgewicht bringt. Aus schulpsychologischen Beratungssituationen wissen wir, dass vor allem Jugendliche zunehmend in den sozialen Rückzug gehen und nicht mehr sichtbar sind.

Wie entwickelt sich das?
Die langanhaltende Situation ist für die Entwicklung von Jugendlichen Gift. Sie brauchen Halt und Sicherheit von ihren Eltern, gleichzeitig möchten sie sich von diesen abgrenzen. Dieser normale Entwicklungsprozess ist komplett aus dem Gleichgewicht.

Was passiert dann?
In dieser instabilen Situation erleben viele Jugendliche von allen Seiten Druck. Sie fühlen sich nicht gesehen und glauben nicht mehr daran, gute Leistungen erbringen zu können. Es kommt zu einem Kontaktabbruch mit der Schule und es beginnt ein Teufelskreis. Immer wieder wird mir von verzweifelte Eltern berichtet, dass selbst ehemals gute Schüler nun häufiger die Note sechs erhalten.

Haben die Lehrkräfte eine Wahl? Sie müssen Noten geben – und eine nicht abgegebene Hausaufgabe ist dann eine Sechs.
Ja, es ist ein Dilemma. Dies muss bildungspolitisch und juristisch geklärt werden. Leider gibt es trotz des anhaltenden Ausnahmezustands kein Verschlechterungsverbot mehr. Der Druck muss jetzt von allen Beteiligten genommen werden. Es muss berücksichtigt werden, dass es gerade langanhaltende besondere Beeinträchtigungen bei vielen Schüler:innen gibt.

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Seit wann kommt diese akute Not der Schüler: innen bei den Schulpsychologen an?
Bei uns haben die Hilferufe nach den Winterferien rapide zugenommen. Die seelische Notlage wird merklich größer. Ich bin mir sicher, dass wir mit den Auswirkungen noch die nächsten Jahre zu tun haben werden.

Vor einer Woche haben 100 Schüler eines Gymnasiums in Tempelhof-Schöneberg über ihre Notlage im Lockdown berichtet. Sind Gymnasiasten stärker von den Problemen betroffen?
Das ist nicht unser Eindruck. Aus den Sekundarschulen werden uns ähnliche Fälle gemeldet. Zudem muss man davon ausgehen, dass das Dunkelfeld viel größer ist: Wir sehen nur die Spitze des Eisberges.

Matthias Siebert ist der Vorsitzende des Landesverband der Schulpsychologen in Berlin e.V.
Matthias Siebert ist der Vorsitzende des Landesverband der Schulpsychologen in Berlin e.V.
© privat

Bei den Umfragen der Schülerinitiative kam heraus, dass viele Schüler:innen von Erfahrungen mit Kindeswohlgefährdung und häuslicher Gewalt berichten. Noch vor einigen Monaten konnten die mit Familiengewalt befassten Stellen keine Zunahme der Zahlen bestätigen. Hat sich das inzwischen geändert?
Auch hier gehe ich von einem großen Dunkelfeld aus. Die Schulen haben eine wichtige Kontrollfunktion, die erneut über einen längeren Zeitraum nicht zur Verfügung stand.

Verzeichnen Sie denn eine Zunahme von Suizidandrohungen oder Suiziden?
Die seelische Notlage ist bei einigen groß, aber es gibt sehr gute Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche, die Perspektiven aufzeigen können. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen an Menschen ihres Vertrauens wenden.

Sind die schulpsychologischen Beratungszentren personell ausgestattet, um die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern?
Bereits vor der Pandemie haben wir als Landesverband eine Aufstockung von 16 Stellen gefordert, um vor allem die Krisenprävention und -intervention zu stärken. Nun haben wir erfahren, dass 26 Stellen nicht fest im Haushalt verankert sind und erst einmal gesichert werden müssen. Wenn dies nicht gelingt, würde es einen Abbau von einem Drittel operativer Schulpsychologie bedeuten. Die Auswirkungen spüren wir bereits jetzt, da freiwerdende Stellen nicht nachbesetzt werden können. Für die schulpsychologische Versorgung in Berlin während und nach der Pandemie wäre das eine Katastrophe.

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