Vorschlag zur Bekämpfung der Pandemiefolgen: Berliner Bildungsstadtrat fordert Samstagsunterricht statt Sitzenbleiben
Trotz harscher Proteste der Schulleitungen stimmten Berlins Koalition und die CDU für eine Neuregelung bei Klassenwiederholungen. Sofort kam ein Gegenvorschlag.
"Zurück zum Samstagsunterricht", lautet die neueste Forderung, um die Lernrückstände aus der Zeit der pandemiebedingten Schulschließungen aufzuholen. Erhoben wird sie von Marzahn-Hellersdorfs Bildungsstadtrat Gordon Lemm. Das sei jedenfalls allemal praktikabler, als massenhaft das Schuljahr zu wiederholen, ist der Sozialdemokrat überzeugt. Denn es fehle schlicht der Platz für noch mehr Schüler.
"Jede Besenkammer ist schon jetzt belegt", sagte Lemm dem Tagesspiegel am Donnerstagabend. In vielen Grundschulklassen säßen bereits 28 oder sogar 30 Kinder. Das habe "Auswirkungen auf die Qualität".
Anlass für Lemms Forderung ist der jetzt eingeschlagene Weg der rot-rot-grünen Koalition in Berlin, die umstrittene Erleichterung von Klassenwiederholungen durchzusetzen: Mit satter Mehrheit hatte das Abgeordnetenhaus am Donnerstag mit den Stimmen der CDU die entsprechende Schulgesetzänderung beschlossen, die Eltern das alleinige Entscheidungsrecht bei Klassenwiederholungen zubilligt.
Dies bedeutet: Wenn Familien den Eindruck haben, dass ihre Kinder den Anschluss ohne Klassenwiederholung verpassen oder es ihnen aus anderen Gründen ratsam erscheint, benötigen sie dafür nicht mehr die Zustimmung der Schulen.
Schulleiterverbände hatten tagelang mit immer neuen Brandbriefen davor gewarnt – zuletzt noch 30 Grundschulleitungen aus Neukölln. Sie argumentieren damit, dass sie weder genug Personal noch genug Platz hätten, um zusätzliche Schüler:innen unterzubringen. Die CDU begründete ihr "Ja" zur Gesetzesänderung mit dem "Primat des Elternwillens".
"Es gibt ausschließlich ungelöste Fragen"
Dem Vernehmen nach schlossen sich intern mehrere Bildungsstadträte wie Gordon Lemm der Kritik an: "Es gibt ausschließlich ungelöste Fragen", begründet Lemm seine Gegenwehr. Schon jetzt seien drei Schulen in seinem Bezirk nur mit Filialen zu betreiben, weil der Platz nicht reiche. Im kommenden Jahr kämen zwei bis drei weitere Filialen hinzu. In mehreren Bezirken wie Pankow, Mitte oder Lichtenberg sei es ähnlich voll.
Wenn jetzt nicht auf die Schnelle Schulcontainer beschafft würden, laufe man "sehenden Auges in das Defizit hinein", warnt Lemm. Er räumt zwar ein, dass die Schulgesetzänderung "sozialpolitisch nachvollziehbar" sei. Das ändere aber nichts daran, dass der Platz nicht reiche. Eine Hellersdorfer Schulleiterin habe ihm berichtet, dass bereits 40 Familien angekündigt hätten, ihre Kinder das Schuljahr wiederholen zu lassen.
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Die Bildungsexpertinnen der Linken und Grünen, Regina Kittler und Stefanie Remlinger, warben am Donnerstag abermals für die von ihnen durchgesetzte Schulgesetzänderung im Hinblick auf Klassenwiederholungen ohne Schulvotum. Dabei argumentierten sie damit, dass auch andere Länder diesen Weg einschlagen würden. Kittler nannte Hamburg als ein Beispiel.
Verlängerung des Schuljahres für alle?
Eine Rückfrage des Tagesspiegels in der Hamburger Bildungsbehörde ergab allerdings, dass die Hamburger Regelung gänzlich anders ist: Die Schule muss sehr wohl zustimmen.
Die Diskussion, wie der fehlende Lernstoff nachgeholt werden könnte, ist voll entbrannt. Zuletzt hatte der Berliner Bildungsforscher Marcel Helbig gefordert, das Schuljahr in ganz Deutschland bis Ende des Jahres zu verlängern. Dies allerdings gilt als kaum praktikabel, weil es dazu eine bundesweite Regelung - also auf Ebene der Kultusminister - eben müsste.
Lernstoff soll entschlackt werden
Ein weiterer Vorschlag besteht darin, massiv Lernstoff zu streichen. Die rot-rot-grünen Bildungsexpertinnen kündigten an, weitere Vorschläge zu unterbreiten. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat bisher vor allem auf die Ferienschulen gesetzt sowie einzelnen Kindern gezielte Unterstützung zukommen lassen. Diese sogenannten Lernbrücken gelten aber nicht als effektiv und großflächig genug. Das Gleiche gilt für die Ferienschulen.
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Lemm erinnerte daran, dass Samstagsunterricht früher sowieso üblich war: In Westdeutschland bis Anfang der 70er Jahre, in der DDR bis zur Wende. Erst vor drei Jahren beendeten die letzten zwei Berliner Schulen ihr Samstagsangebot.
Der Vorteil des Ergänzungsunterrichts am Samstag bestünde darin, dass keine zusätzlichen Räumlichkeiten geschaffen werden müssten. Das Personal könnte – wie jetzt für die Lernbrücken – bei freien Trägern angeworben werden. Auch professionelle Nachhilfeinstitute einzuschalten gilt als praktikabler als das massenhafte Wiederholen des Schuljahres, für das ohnehin keine ausgebildeten Lehrkräfte zur Verfügung stünden: Schon jetzt besteht über die Hälfte der Neueinstellungen aus Quer- oder Seiteneinsteigern.