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Marcel Helbig forscht zu Bildung und sozialer Ungleichheit am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
© Bernhard Ludewig

„Keine Lust auf einen zweiten PISA-Schock“: Warum ein Berliner Forscher das Corona-Schuljahr bis Dezember verlängern will

Über die Folgen des Homeschoolings wird zu wenig gesprochen, sagt der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig. Im Interview spricht er über verschiedene Lösungen.

Professor Helbig, Sie haben vorgeschlagen, das aktuelle Schuljahr bundesweit bis Dezember zu verlängern, damit die Schülerinnen und Schüler den Stoff aus dem Lockdown nachholen können. Der Einstieg in die Universitäten und in die duale Ausbildung müsste dann entsprechend verschoben werden. Berlins Gymnasialverband hatte im Mai 2020 einen ähnlichen Vorstoß für das Schuljahr 2019/20 unternommen. Damals verhallte er. Wie sieht es diesmal aus?
Bisher ist das Feedback auf den Vorschlag überwiegend positiv. Aber eigentlich geht es mir gar nicht darum, dass sich der Vorschlag durchsetzt. Mir geht es darum, eine Debatte dazu anzuregen, wie wir mittel- und langfristig mit den Homeschooling-Folgen umgehen wollen. Diese Debatte, so sie überhaupt geführt wird, hat zu viele Denkblockaden. Von allen Vorschlägen, die bisher diskutiert werden, halte ich eine Schuljahresverlängerung für die sinnvollste Alternative.

Gab es auch zustimmende Reaktionen von Seiten der Politik?
Bisher haben sich ein Bildungsministerium und ein paar Abgeordnete gemeldet, um sich mit dem Vorschlag auseinanderzusetzen. Für den Vorschlag braucht man allerdings alle 16 Länder. Da ist also noch Luft nach oben. Vielleicht hat man mich im Homeoffice neben dem Homebetreuing und Homeschooling aber auch nur schlecht erreicht.

Könnte die Wissenschaft nicht durch eine große Untersuchung die Lernlücken nachweisen, um den politischen Mut zu wecken?
Teilweise stehen diese Untersuchungen in den Startlöchern. Der nächste Ländervergleich soll für die Viertklässler noch 2021 erfolgen. Die nächste PISA-Studie wurde auf 2022 verschoben. Die Ergebnisse beider Studien werden aber zu spät kommen, um vor dem Schuljahresende noch etwas zu ändern. Ich habe keine Lust auf einen zweiten PISA-Schock und sehe zeitnah nur den Weg, auf die Vergleichsarbeiten zurückzugreifen. Sie werden bundesweit in den Jahrgangstufen 3 und 8 und teilweise in Jahrgangsstufe 6 geschrieben. Nach derzeitigem Stand verzichten aber fast alle Bundesländer auf diese Erhebung.

Warum?
Man kann schon das Gefühl bekommen, dass die betreffenden Länder nicht wissen wollen, wie schlimm die Situation ist. Ich halte die Vergleichsarbeiten für das schärfste, vielleicht das einzige Schwert, das wir haben, um strukturelle Probleme aufzuspüren. Wie sind die Kompetenzniveaus im Vergleich zu früheren Jahren? Hat das Homeschooling größere Lücken in Gebieten ohne Breitbandausbau gerissen? Welche Jahrgangsstufen sind besonders betroffen? Gibt es eine noch ungünstigere Entwicklung in sozial benachteiligten Lagen? Für diese Fragen wäre die Kooperation mit den großen Bildungsforschungsinstituten sinnvoll. Und die Antworten auf diese Fragen würde die Bildungspolitik zum Handeln auffordern.

Einige Länder bieten Ferienschulen oder eine zusätzliche individuelle Unterstützung an. Gibt es Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser Maßnahmen?
Wir haben kumuliert seit letztem März vier bis fünf Monate keinen Präsenzunterricht gehabt. Durch die vielen Quarantänen werden einige Schüler vielleicht sechs Monate keinen regulären Unterricht gehabt haben, und wenn die Virologen bezüglich der Mutanten Recht haben, ist auch eine weitere Schulschließung nicht restlos auszuschließen.

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Wie gut das Homeschooling in dieser Zeit funktioniert hat, ist zumindest fraglich. Selbst wenn Ferienschulen gut funktionieren, sind sie doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zudem wird auf viele Eltern und Kinder aktuell die Diagnose zutreffen, dass sie mit ihren Kräften am Ende sind. Ist es wirklich ernst gemeint, dass man gerade diesen Eltern und Kindern sagt: Sommerferien fallen dieses Jahr aus, der Corona-Stoff muss nachgeholt werden?

Sollte man die Schüler ermuntern, das Jahr zu wiederholen?
Diesen Vorschlag halte ich in seinen Folgen für kaum abschätzbar. Auf der einen Seite ist Sitzenbleiben immer ein Stigma gewesen. Daher werden nur wenige Schüler freiwillig wiederholen. Die Quittung könnte dann in späteren Schuljahren folgen, wenn der Corona-Bonus abgelaufen ist. Auf der anderen Seite: Was ist, wenn wirklich viele Schüler wiederholen – vielleicht verstärkt durch Kampagnen in den sozialen Medien? Dann werden wir sehen, dass diese individuelle Lösung des Wiederholens einige ohnehin überfüllte Großstadtschulen vor große Herausforderungen stellen wird.

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss oder zumindest ohne die Basiskenntnisse in Mathematik und Englisch dürfte steigen. Wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt, ein elftes Berufsschulpflichtjahr anzuhängen?
Ich glaube nicht, dass wir das brauchen, wenn wir die Corona-Folgen etwa in einem Langschuljahr abfedern.

Sollten die Kultusminister sich nicht darauf einigen können, große und kleine Nachhilfeinstitute auf Staatskosten in die Schulen zu holen und dort am Nachmittag verpflichtende Stützkurse anzubieten?
Zum einen ist die Studienlage im Hinblick auf Nachhilfe bestenfalls gemischt. Nachhilfe bringt also eher wenig. Zweitens finde ich den Ansatz, nach den Schulöffnungen fehlendes Wissen in die Kinder reinzustopfen, grundfalsch. Wieso problematisieren wir das nicht erworbene Wissen vieler Schüler? Was ist so schlimm daran, unseren Kindern zu sagen: Wir haben eine Pandemie – eine absolute Ausnahmesituation. Wir waren auf digitales Lernen nicht gut vorbereitet und sind es immer noch nicht! Es ist nicht deine Schuld, dass du den Lernstoff nicht erworben hast! Wir finden eine Lösung, bei der wir uns Zeit für dich nehmen!

Gibt es Untersuchungen, inwieweit sich die Schere je nach sozialer Herkunft durch die Pandemie noch weiter öffnet?
Bisher gibt es meines Wissens Studien aus den Niederlanden und Belgien, die dies zeigen. Aber selbst ohne empirische Belege würde niemand behaupten, dass sich die soziale Schere aktuell nicht weiter öffnet: Die Schulschließungen verstärken alle Mechanismen, die für soziale Ungleichheiten verantwortlich sind.

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