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Auf Lücke sitzen dürfte schwierig werden, wenn die Klassen durch zahlreiche Sitzenbleiber voller werden.
© Kitty Kleist-Heinrich

Pläne zur Rettung des Schuljahres: Breiter Widerstand gegen Berliner Regelung zum Sitzenbleiben

Rot-Rot-Grün möchte, dass Schüler ohne Zustimmung ihrer Schulen eine Klasse wiederholen können. Schulleiter und Eltern warnen vor Personal- und Raummangel.

So viel Einigkeit war selten: Für ihren Brandbrief gegen ein Vorhaben der Koalition zum freiwilligen Sitzenbleiben haben die fünf großen Berliner Schulleiterverbände am Dienstag viel Unterstützung erhalten. Die CDU schloss sich der Warnung vor personellen und räumlichen Engpässen an, die FDP befürchtet gar ein "Schulchaos", wenn Familien ohne Befürwortung der Schule Klassenwiederholungen beanspruchen können, um die Zeit der Schulschließungen zu kompensieren.

Landeselternsprecher Norman Heise gab zu bedenken, der Entwurf produziere angesichts des Berliner Personal- und Raummangels „mehr Fragen als Antworten“. Die Bildungsstadträte seien offenbar außen vor gelassen worden. Zuvor hatten die Schulleiterverbände vor einer „schulorganisatorischen Katastrophe“, gewarnt.

Der umstrittene Gesetzentwurf, der von den rot-rot-grünen Bildungsexpertinnen gekommen war, soll am Donnerstag im Abgeordnetenhaus beschlossen werden. Er enthält mehrere Pandemie-bedingte Ausnahmeregelungen, darunter die gelockerte Sitzenbleibervorschrift.

Wie der CDU-Abgeordnete Dirk Stettner dem Tagesspiegel berichtete, erhielt der Schulausschusses den entsprechenden Antrag erst eine Stunde vor Beginn der Sitzung am vergangenen Donnerstag. CDU und FDP sagten spontan „Ja“, was die FDP am Dienstag mit der Überrumpelungssituation begründete. Jetzt warnen die Liberalen vor „Chaos“.

Die CDU sagt, sie habe wegen ihres generellen „Primat des Elternwillens“ zugestimmt. Inzwischen hat Stettner allerdings einen Änderungsantrag formuliert. Dort wird die Unterstützung an drei Voraussetzungen geknüpft: genug Räume, genug Personal und eine Antragsfrist bis 31. März, damit Zeit zum Planen bleibt.

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Freiwilliges Sitzenbleiben ist in Berlin auch bisher schon möglich – aber nur im Einvernehmen mit der Schule. Die Koalition will stattdessen, dass die Schule nur eine Beratung leisten müsste. Die Familien oder – ab dem 18. Lebensjahr – die Schüler:innen, hätten das letzte Wort. In einer ersten Schätzung bezifferte Sven Zimmerschied von der Sekundarschulleitervereinigung die zu erwartende Zahl an Wiederholern auf „4000 bis 8000“.

Hunderte Schulen leiden schon jetzt unter Platzmangel

Das dürfte zu Problemen führen, denn Berlin hat kaum Schulplätze in Reserve. An rund 100 Schulen gibt es deshalb schon länger behelfsweise Modulbauten. Viele Pausenflächen sind mit Containern zugestellt, in denen einzelne Klassenstufen untergebracht sind. Längst mussten sich die Grundschulen von der verbindlichen Praxis verabschieden, separate Horträume vorzuhalten: Viele Schüler sitzen nun wieder von 8 bis 16 oder gar 18 Uhr im selben Raum. Überdies mussten Computer- oder Kunsträume aufgegeben werden, um alle Schüler unterzubringen zu können.

Der Senat kommentiert den Fraktionsvorstoß nicht

Aber auch diese Maßnahmen reichen seit Jahren nicht, um alle Schüler unterzubringen. Hunderte Klassen sind daher voller als es die Richtwerte vorsehen. Nicht weniger prekär ist die Personallage: In Berlin herrscht seit 15 Jahren Lehrkräftemangel, und seit sieben Jahren gehört die Einstellung von rund 1000 Quereinsteigern pro Jahr zur Normalität.

Angesichts dieser doppelten Notlage fiel die Reaktion der Senatsverwaltung für Bildung auf den Vorstoß der Koalition auch recht schmallippig aus: Man pflege, „Entscheidungen der Legislative nicht zu kommentieren“.

Die Koalition verteidigt das Vorhaben

Die Bildungsexpertinnen der Koalition verteidigen ihr Vorhaben, das auch bereits vom Deutschen Lehrerverband ins Gespräch gebracht worden war. Der Vorstoß müsse jetzt als Chance begriffen werden, sich des gesamten Problems der verlorenen Lernzeit zu stellen: „Wir dürfen nicht so tun, als wäre es mit ein bisschen Ferienschule getan“, forderte Stefanie Remlinger von den Grünen.

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Zum CDU-Vorstoß für eine Befristung der Anträge auf freiwilliges Wiederholen sagte sie, es stehe der Verwaltung frei, entsprechende Fristen in eine Verordnung aufzunehmen. Im übrigen gehe sie davon aus, dass sich Familien durchaus offen beraten lassen würden, sagte Remlinger. Es sei ihr aber wichtig, „dass Familien nicht das Gefühl bekommen, dass ihre Kinder einfach in die nächste Klasse weitergeschoben werden, weil in ihrer Schule Räume und Personal zum Wiederholen fehlen“.

Können Lernpläne entschlackt werden?

Auch Maja Lasic von der SPD findet, dass jetzt der Zeitpunkt sei, um die Debatte über die Kompensationsmöglichkeiten der verlorenen Lernzeit zu führen. Vorschläge wie den, das Schuljahr bis Dezember zu verlängern, halte sie für in der Kultusministerkonferenz nicht durchsetzbar. Deshalb müsse man Wege finden, die ohne eine bundesweite Einigung gangbar seien.

Lasic geht davon aus, dass es am Donnerstag bei der Diskussion im Plenum auch um die Frage gehen wird, ob die Lernpläne nicht entschlackt werden könnten. Wenn man Familien sowohl eine solche Erleichterung als auch zusätzliche Unterstützung anbieten könnte, müsse man kein Übermaß an Klassenwiederholen befürchten, glaubt Lasic.

Die Wiederholung als Alternative zur Ausbildungsplatzsuche

Die Schulleiterverbände wollen sich nicht darauf verlassen, dass es ihnen mittels Beratung gelingt, Familien vom freiwilligen Sitzenbleiben abzuhalten, wenn es ihnen so leicht gemacht wird, wie es die Koalition plant. Sie befürchten beispielsweise, dass der Pandemie-bedingte Wegfall von Berufsberatung und von dualen Ausbildungsplätzen die Zahl der Wiederholer am Ende der zehnten Klassen in die Höhe treiben wird.

Unterzeichnet wurde der Brandbrief von der Interessenvertretung Berliner Schulleitungen (IBS), dem Verein Berufliche Bildung in Berlin (BBB), der GEW-Schulleiter-Vereinigung, der Vereinigung der Sekundarschulleitungen (BISSS) sowie der Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren (VOB). Der VOB-Vorsitzende Ralf Treptow hatte tags zuvor in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel vor den Risiken der geplanten Sitzenbleiberregelung gewarnt.

Ein Schulleiterverband sieht "Panikmache"

Als einzige Berliner Schulleitervereinigung schloss sich der Zusammenschluss der Gemeinschaftsschulleitungen (GGG) nicht dem Brandbrief an. In einem Schreiben an die Mitglieder räumte der Vorsitzende Robert Giese zwar ein, dass es zu "Verwerfungen" kommen könne wie "zum Teil übervolle Klassen" in einzelnen Jahrgängen, neu einzurichtende Klassen, eine "unter Umständen zunehmende prekäre Raumsituation" sowie der "Verlust von Sozialbeziehungen für Kinder und Jugendliche, die tatsächlich ihre Klassen oder Stammgruppen verlassen".

Dennoch könne er "eine gewisse Panikmache nicht nachvollziehen", schreibt Giese weiter. Er sei "überzeugt davon, dass die Beratung an Schulen, an denen Klassenräte und Lernentwicklungsgespräche selbstverständlich sind, in den allermeisten Fällen dazu führen werden, dass Schüler:innen und deren Eltern das Zutrauen gewinnen, es ohne Wiederholung mit unserer professionellen Unterstützung zu schaffen".

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