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Lehrkräfte für die Grundschule werden dringend gesucht.
© picture alliance / Julian Strate
Update

Bertelsmann-Studie: In Deutschland fehlen 35.000 Grundschullehrer

Bei den aktuellen Berliner Neueinstellungen von Lehrpersonal sind nur 28 Prozent gelernte Primarlehrer. Der Verband spricht von "völligem Versagen" der Länder.

Der Lehrermangel an den Grundschulen in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Bis zum Jahr 2025 könnten bundesweit mindestens 35.000 Grundschullehrkräfte fehlen: Davon geht eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus, die am Mittwoch veröffentlicht wurde. Grund sind steigende Schülerzahlen - darunter viele Geflüchtete - sowie der Ausbau der Ganztagsbetreuung, während gleichzeitig viele Lehrerinnen und Lehrer in Rente gehen werden.

Demnach müssen bis 2020/21 9.800 Grundschullehrer jährlich eingestellt werden, in den Jahren danach sogar 11.200. Aus den Hochschulen werden in dem Zeitraum aber deutlich weniger Lehramtsabsolventen kommen. „Es bedarf also kurzfristiger Lösungen“, schreiben die Bildungsforscher Klaus Klemm und Dieter Zorn, die Autoren der Studie. Sie favorisieren, dass Teilzeitkräfte und Pensionäre mehr unterrichten. Allerdings werde man auch weiter auf Quereinsteiger zurückgreifen müssen, wie es aktuell viele Länder tun. So sind in Berlin unter den zum zweiten Schulhalbjahr 2017/18 neu eingestellten Grundschullehrern knapp die Hälfte Quereinsteiger, wie die Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ebenfalls am Mittwoch mitteilte. Ähnlich verhielt es sich 2017.

"Entsetzen und Empörung"

Der Grundschullehrerverband reagierte mit „Entsetzen und Empörung“ auf die Ergebnisse der Studie. Diese dokumentiere „ein völliges Versagen der Kultusverwaltungen der Länder bei der Sicherstellung des Lehrerbedarfs für die Grundschule“, hieß es in einer aktuellen Stellungnahme. Der Verband forderte von Union und SPD, auf den im Sondierungspapier in Aussicht gestellten Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Kinder in der Grundschule zu verzichten – „um die Bevölkerung nicht zu täuschen“. Der Rechtsanspruch sei „in den kommenden zehn Jahren nicht realisierbar“.

Dem widersprach Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Der Rechtsanspruch sei pädagogisch sinnvoll und von den Eltern gewollt: „Er darf nicht an fehlenden Lehrerinnen und Lehrern scheitern.“ Marlis Tepe, Vorsitzende der Bundes-GEW, forderte eine bessere Finanzierung des von Union und SPD anvisierten Ganztagsschulprogramms sowie der Inklusion: „Hier müssen CDU/CSU und SPD während der Koalitionsverhandlungen noch kräftig nachlegen.“ Der Verband Bildung und Erziehung mahnte unter anderen an, das Lehramtsstudium weiter zu verbessern, um Abbrecherquoten zu senken.

Wiederauflage der "Bildungskatastrophe"?

Schon heute ist der Mangel an Lehrkräften vor allem an Grundschulen in vielen Bundesländern zu spüren. Angesichts der neuen Zahlen mahnte der Grundschulverband, die Berechnungen erinnerten an die deutsche "Bildungskatastrophe" von 1964, aus der die Bildungsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf eine vorsorgende Lehrerbedarfsplanung "offenkundig bis heute keinerlei Konsequenzen gezogen" hätten, heißt es in der Stellungnahme.

Dass die Schülerzahlen und damit auch der Bedarf an Lehrkräften in den kommenden Jahren deutlich über den offiziellen Prognosen der Kultusminister liegen werden, hatte die Bertelsmann-Stiftung bereits im Sommer in einer Studie festgestellt. Daran knüpfen die neuen Berechnungen nun an, sie liegen bei den Lehrkräften für die Grundschule noch einmal ein wenig höher. Viele Faktoren kommen zusammen: Nicht nur wegen der steigenden Schülerzahlen, sondern auch wegen des von der Politik gewollten Ausbaus der Ganztagsschulen werden prinzipiell mehr Lehrkräfte gebraucht. Gleichzeitig gehen aber bis zum Jahr 2030 rund 40 Prozent der Grundschullehrerinnen und -lehrer in Pension.

Viele Lehrkräfte gehen in den Ruhestand

Insgesamt müssen laut der Studie bis 2025 knapp 105.000 Lehrkräfte an den Grundschulen neu eingestellt werden. Davon ersetzen 60.000 die ausscheidenden Pensionäre. 26.000 werden benötigt, um die steigenden Schülerzahlen zu bewältigen, 19.000 für zusätzliche Ganztagsangebote. Dem stehen aber nur 70.000 Absolventen gegenüber, die in der Zeit von den Hochschulen kommen werden. Damit entsteht rechnerisch eine Lücke von eben jenen 35.000 Grundschullehrerinnen – und lehrern.

Jörg Dräger, Vorstand der Bertelmann-Stiftung, appelliert an die Länder, sich nicht mehr gegenseitig die Lehrer abzuwerben – sondern angesichts des bundesweiten Lehrermangels nach gemeinschaftlichen Lösungen zu suchen. Einfach nur die Zahl an Studienplätzen aufzustocken, werde nicht helfen, heißt es in der Studie: Denn bei den langen Ausbildungszeiten kommen die Absolventen zu spät an den Schulen an. „An kurzfristig wirksamen Lösungsansätzen führt kein Weg vorbei“, schreiben Klemm und Zorn daher. Sie empfehlen vor allem, Teilzeitkräfte dafür zu gewinnen, ihre Stundenzahl aufzustocken – und Pensionäre zu bewegen, ihren Ruhestand hinauszuzögern.

Teilzeitkräfte und Pensionäre bewegen, mehr zu unterrichten

Tatsächlich sind rund 40 Prozent der Grundschullehrkräfte in Teilzeit beschäftigt – unter den Frauen, die deutlich häufiger an Grundschulen unterrichten als Männer, ist der Anteil noch einmal etwas höher. Die Länder müssten hier die Rahmenbedingungen verbessern, um Anreize für eine Vollbeschäftigung zu schaffen, fordern Klemm und Zorn: etwa, Kitaplätze für Lehrkräfte zu sichern, damit diese Familie und Beruf besser vereinbaren können. Auch müssten sie bei Aufgaben entlastet werden, die nicht unmittelbar zum Unterricht gehören. Erst am Montag hatte eine GEW-Studie festgestellt, dass Lehrkräfte mit gut 48 Stunden in einer Schulwoche mehr arbeiten als andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst – was auch daran liege, dass die zusätzlichen Aufgaben zunehmen.

So sind Grundschullehrkräfte in Deutschland beschäftigt.
So sind Grundschullehrkräfte in Deutschland beschäftigt.
© Fabian Bartel/Tsp

Pensionäre sollen Quereinsteiger einarbeiten

Bei Pensionären sollten die Länder prüfen, die Hinzuverdienstgrenze anzuheben. So könnte es für sie attraktiver werden, länger als geplant zu unterrichten. Auf diesen Weg will sich auch Berlin begeben, das seit vier Jahren einseitig auf Quereinsteiger gesetzt hatte. Das soll nun anders werden. Wie berichtet, hat Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) angekündigt, dass sie verstärkt auf Kräfte zurückgreifen will, die sich in den kommenden Jahren eigentlich in den Ruhestand verabschieden könnten. Die älteren Lehrer sollen auch Quereinsteiger einarbeiten. Allerdings müssen finanzielle Anreize geschaffen werden, damit die Pensionäre dazu bereit sind. Über diesen Punkt wird bereits seit Monaten zwischen Bildungs- und Finanzverwaltung verhandelt.

Pension plus volles Gehalt in NRW

Auch andere Länder werben um Pensionäre. So erhalten Beamte in Nordrhein-Westfalen, die länger im Dienst bleiben, je nach Gehaltsstufe entweder einen zehnprozentigen Gehaltszuschlag oder eine Erhöhung ihrer Pension. Für Beamte, die aus dem Ruhestand in den Schuldienst zurückkehren, wurde die Hinzuverdienstgrenze vorläufig ausgesetzt, sodass sie neben ihren Versorgungsbezügen ein Monatsgehalt beziehen können, teilte eine Behördensprecherin auf Anfrage mit.

In Sachsen bekommen Lehrkräfte, die bereit sind, in Mangelregionen zu gehen oder die für Mangelfächer ausgebildet wurden, Gewinnungszulagen von rund 600 Euro brutto, bestätigte das Kultusministerium. Wer bereit ist, über das 63. Lebensjahr hinaus zu arbeiten, erhält Abminderungsstunden und eine Bindungszulage von bis zu 800 Euro.

Bei freiwilligen Maßnahmen wie der Weiterbeschäftigung von Pensionären bleibe aber schwer abzuschätzen, wie groß der Effekt wirklich sein werde, heißt es in der Studie. Zumal Lehrer eher dazu tendieren, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen als länger zu arbeiten. Auf Quer- und Seiteneinsteiger werde man daher ebenfalls nicht verzichten können.

40 bis 50 Prozent Quereinsteiger in Berlin

Für Berlin bedeutet das konkret für das zweite Schulhalbjahr, das am 5. Februar beginnt, dass von 835 neu eingestellten Lehrkräften knapp 40 Prozent Quereinsteiger sind. Sie ballen sich in sozial belasteten Bezirken wie Mitte und Neukölln oder in Stadtrandregionen wie Spandau. In der Grundschule ist der Mangel noch größer. Unter den Neueinstellungen sind nur 28 Prozent Grundschulpädagogen. Knapp 50 Prozent sind Quereinsteiger, der Rest Oberschullehrer.

"Reaktive Personalpolitik"

Der Grundschulverband warnte vor „dramatischen“ Folgen für die Schülerinnen und Schüler. Die Eingangsstufe der Grundschule müsse „für Laienpädagogen absolut tabu bleiben“, hieß es im Hinblick auf die in Grundschulen vielfach eingesetzten Quereinsteiger. Der Verband forderte von den Kultusministern, ein „seriöses, wissensbasiertes System der Lehrerbedarfsrechnung“ mit qualifizierten Bevölkerungsstatistikern aufzubauen – und von ihrer „reaktiven“ Personalpolitik zu einem proaktiven Handeln überzugehen.

Dazu sagte der Vize-Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Hessens Kultusminister Alexander Lorz, alle 16 Länder seien sich der Lage bewusst und ergriffen bereits „landesspezifische Maßnahmen“. Hierfür bedürfe es keines „Weckrufs“ der Bertelsmann-Stiftung. Der in der Vergangenheit prognostizierte Lehrkräftebedarf werde durch die Folgen steigender Geburtenzahlen und vor allem der Zuwanderung allerdings erheblich verstärkt. Im Herbst soll eine eigene KMK-Lehrerbedarfsprognose vorliegen, vorher eine Schülerprognose.

Warnung vor Quereinsteigern bei Schulanfängern

Da in den Klassen eins und zwei "die Grundlagen für den späteren Erfolg oder Misserfolg in der Schule gelegt" würden, sei eine misslungene Alphabetisierung der "worst case" in der Schullaufbahn und auf höheren Jahrgangsstufen "kaum mehr zu korrigieren". Die Eingangsstufe der Grundschule müsse daher "für Laienpädagogen absolut tabu bleiben", hieß es im Hinblick auf die in Grundschulen vielfach eingesetzten Quereinsteiger.
Ähnlich besorgt hatte sich vor einigen Monaten auch die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft über die Beschäftigung von Quereinsteigern in der Grundschule geäußert.

Lehrer ohne "deutsche Hochsprache"?

Wie berichtet, wurden in Berlins Grundschulen im Sommer 2017 über 50 Prozent der offenen Stellen durch Quereinsteiger besetzt. Sie ballten sich schon 2017 vor allem in den sozialen Brennpunkten: Der Berliner FU-Primarforscher Jörg Ramseger hatte bei einer Anhörung im Abgeordnetenhaus eindringlich vor den Folgen gewarnt. In Berlin kommt noch hinzu, dass es in der Schuleingangsphase im Bundesvergleich besonders wenig Unterrichtsstunden gibt. Der Grundschulverband wies zudem darauf hin, dass in einigen Bundesländern inzwischen schon Lehrkräfte aus dem Ausland rekrutiert würden, "die nicht einmal die deutsche Hochsprache hinreichend beherrschen, in die sie die Schülerinnen und Schüler aber einführen sollen."

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