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Voll dabei: Quereinsteiger Nicolás Urióstegui.
© Thilo Rückeis

Lehrermangel in Berlin: In der Klasse mit einem Quereinsteiger

Nach Jahren in der Wirtschaft entschloss sich Nicolás Urióstegui zum radikalen Wechsel. Nun wird er Grundschullehrer. Mit Überzeugung. Eine Reportage.

Der Klassenlehrer der 5b an der Fläming-Grundschule, Herr Urióstegui, sieht doch tatsächlich ein wenig aus wie Elyas M’Barek, der Vater aller Quereinsteiger-Lehrer. Schwarze wellige Haare, durchtrainierte Figur. Nur, dass Urióstegui einen Kopf größer ist als der „Fack ju Göhte“-Hauptdarsteller. Auch seine methodischen Vorstellungen sind offensichtlich andere. Urióstegui gibt sich behutsam. Nicht nur an diesem Dienstag in der fünften und letzten Stunde, in der vor ihm zwei weinende Mädchen sitzen. „Ella geht es wieder gut“, sagt er mit sanfter Stimme. „Nur zur Beobachtung bleibt sie bis morgen im Krankenhaus.“ Beim Wort Krankenhaus heulen die beiden Mädchen laut auf.

Die große Pause zuvor hatte es in sich. Urióstegui musste einen Rettungswagen rufen, weil eine seiner Schülerinnen am Ende der Sportstunde einen Asthma-Anfall hatte. Schuldirektorin Christiane Wendt führte die Notärzte zum hastig atmenden Kind, während Urióstegui sich eine orangefarbene Signalweste überstreifte, an der hier die Pausenaufsicht zu erkennen ist, und auf ein Knäuel rangelnder Jungs zulief.

Bei so viel Einsatz ist es kein Wunder, dass Direktorin Wendt im vergangenen Sommer eine Verlobung mit Nicolás Urióstegui angestrebt hat. Das sagt sie wirklich so. Sie ist eine sympathische, lebhafte Frau Ende 50 mit schmalem Gesicht und blondem Pagenkopf. Verlobung heißt im Schulverwaltungs-Jargon, dass eine Schulleitung mit einem Quereinsteiger verabredet, dass er während seiner Ausbildung an der Schule unterrichtet. Das Land Berlin muss dann noch seinen Segen dazugeben.

Deshalb mussten Wendt und Urióstegui zu einem sogenannten Casting in einer Schule am Südstern. Dort stellten sich ungefähr hundert Bewerber in zehnminütigen Vorträgen einer Gruppe von dreißig Schulleitern vor, die Stellen zu besetzen hatten. Solche Massenvorstellungstermine organisiert die Berliner Schulverwaltung zurzeit in der ganzen Stadt. Bei den Castings gehe es ein bisschen zu wie auf einem Bazar, erzählt Wendt lachend. „Du hast doch schon zwei, und ich hab’ noch gar keinen!“

Unorthodoxe Rekrutierungsmethode

Berlin gehen die Lehrer aus. Grund ist eine Pensionierungswelle bei steigenden Schülerzahlen. Als sich selbst mit Werbekampagnen in anderen Bundesländern und Österreich nicht genügend Lehrer anlocken ließen, entschloss sich der Senat zu einer unorthodoxen Rekrutierungsmethode. Der Schuldienst wurde für Akademiker mit egal welcher beruflichen Vorgeschichte geöffnet, sofern sie Fächer studiert haben, in denen Lehrpersonal fehlt. Berufsbegleitend werden sie zu Pädagogen ausgebildet. Ein Experiment im bundesdeutschen Ausbildungswesen, in dem zwar lebenslanges Lernen propagiert wird, aber Neuanfänge nicht vorgesehen sind.

An Grundschulen, wo der Lehrermangel am extremsten ist, wurde in diesem Schuljahr jede zweite offene Stelle mit einem Quereinsteiger besetzt: berlinweit waren es mehr als 500. Doch obwohl mittlerweile in den meisten Lehrerzimmern der Stadt Kollegen mit zum Teil schillernden Berufen wie Regisseur, Talkshow-Redakteurin, Orchestergeiger oder Tierärztin anzutreffen sind, war es schwer, einen zu finden, der öffentlich von seinen Erfahrungen berichtet. Nicolás Urióstegui, der zuvor Produktmanager bei einem holländischen Start-up war, hat zugestimmt.

Er ist 33, verheiratet, zwei Töchter. An diesem nebligen Wintermorgen hastet er die Treppen der Fläming-Grundschule hinauf, ein kastiger 70er-Jahre-Bau in Friedenau. Der altbekannte Geruch von Tafelschwamm steigt in die Nase. Kindergeschrei. „Viele finden Schulatmosphäre ja nervig“, sagt Urióstegui. „Mir macht das hier gute Laune.“

Seit September unterrichtet er hier 19 Stunden pro Woche Deutsch, Naturwissenschaften und Sport. Dienstagnachmittags muss er ins schulpraktische Seminar. Auch in seiner Klasse dort sind die Quereinsteiger in der Überzahl: Sie sind neun zu zwei Lehramtsstudentinnen.

Das Gehalt ist ein Anreiz

Die Neuen stehen unter Druck – von manchen Schülern, die ihre Unsicherheit spüren. Denn während sie bereits unterrichten, erlernen sie erst nach und nach das pädagogische Handwerkszeug. Außerdem schüren Funktionäre wie der Chef der Bundesdirektorenkonferenz, Dieter Brückner, das Misstrauen gegen sie. „Bei Kindern, die von Seitenwechslern unterrichtet werden, sind Lücken bei den Schlüsselqualifikationen zu befürchten: Lesen, Schreiben, Rechnen“, unkte Brückner. Hinzu kommt Missgunst in manchen Kollegien, denn die Neuen verdienen nach dem Referendariat 5300 Euro – mehr als altgediente Grundschullehrer. Gedacht ist das als Anreiz zum Umsatteln.

Nicolás Urióstegui hat das Fach Deutsch nicht studiert, das er gleich unterrichten soll. Einen Steckbrief verfassen, wie es für seine fünfte Klasse im Lehrplan Deutsch steht, das kann er auch so. Grundschulstoff erschließt sich für Erwachsene ohne große Vorbildung. Ein guter Lehrer zu sein, das ist ohnehin in den Augen vieler eine reine Frage der Persönlichkeit. Aber das ist es nicht nur.

Vieles, sagt Urióstegui, was man im Schulalltag beachten müsse, könne man nicht wissen. Simple Dinge: Wie, dass er ausschließlich in Druckschrift an die Tafel schreiben darf, weil seine Schüler seine Schreibschrift nicht mehr lesen können. Oder wie er die Flüchtlingskinder in seiner Klasse bei Deutschaufsätzen bewerten soll. Er recherchierte die E-Mail-Adresse der Zuständigen bei der Senatsverwaltung, schilderte ihr den Fall. Die Mail kam als unzustellbar zurück.

Urióstegui hat Sport studiert. Auf Diplom, nicht auf Lehramt, was er heute oft verflucht. Das hätte ihm die langen Ausbildungsjahre erspart, die jetzt noch vor ihm liegen: insgesamt viereinhalb. Doch damals war er froh, die Schule hinter sich gelassen zu haben. Als „eher hibbeliges Kind“ sei er auf dem Zehlendorfer Gymnasium, das er besuchte, der „Tadel-König“ gewesen, erzählt er lachend. Nach der Uni fing er als Bildungsreferent bei DHL an. Von seinem Büro im Post-Tower in Bonn aus war er einer der Mittelsmänner zu Projekten, die von DHL gesponsert wurden. Dass er aus der Wirtschaft kommt, merkt man nur manchmal an Wörtern, die ihm herausrutschen, wie „Unternehmensphilosophie der Fläming-Grundschule“.

Quereinsteiger als Bereicherung

Seine Klasse besteht aus 24 Schülern, die meisten sind zehn Jahre alt, ein Junge hat einen Integrationsstatus wegen einer emotional-sozialen Störung. Freundliche, an diesem Tag durch den Notfalleinsatz aufgewühlte Kinder, mit denen Urióstegui nun das Steckbriefschreiben üben will, indem er sie eine Verlustanzeige für einen entlaufenen Hund texten lässt. Als er sie bittet, ihre Materialien herauszuholen, melden sich fünf Kinder, die sie zu Hause vergessen haben. „Danke“, antwortet Urióstegui ganz ohne Ironie. „Dass ihr so ehrlich seid, es mir zu sagen.“

Er ist wirklich ein milder Lehrer. Und er lobt so viel, bis sich eine Schülerin beschwert: „Du hast eben alle gelobt, dass sie so gut aufgeräumt haben. Dabei haben manche gar nichts gemacht.“ Trotzdem entgleitet ihm die Klasse nicht. Anfängerprobleme, von denen andere Quereinsteiger anonym berichten, zum Beispiel ihre Hilflosigkeit, wenn ein einzelner Schüler den Unterricht sprengt, sind bei ihm nicht zu beobachten. Auch weil er kein Anfänger ist. Vor fünf Jahren hat er an einem Programm von Teach First teilgenommen, einem Verein, der „Eliteabsolventen von deutschen Hochschulen“, wie es heißt, für zwei Jahre an Brennpunktschulen vermittelt. Damals hatte Urióstegui im Wedding unterrichtet und in begleitenden Kursen gelernt, wie man mit Kindergruppen umgeht.

Was ihm noch fehlt, ist das Fachliche. Mit Dienstbeginn hätte er ein Jahr lang Deutsch nebenher nachstudieren sollen, wie es für alle Berliner Quereinsteiger Pflicht ist. Doch für dieses Schuljahr war im STEP, einem ehemaligen Parkhaus an der Friedrichsstraße, das der Senat zur Zentrale für Lehrerausbildung umgebaut hat, alles voll. So muss Urióstegui weiter improvisieren. Und die Kollegen fragen.

Rund 40 Lehrer der Fläming-Grundschule sind klassisch ausgebildet, zwei sind es im Zweitberuf. Die Quereinsteiger seien eine Bereicherung, sagt die Direktorin Christiane Wendt, aber in ihrer Betreuungsintensität keine leicht zu schulternde Aufgabe für das Kollegium, das mit der Integration der Willkommenskinder ohnehin stark beansprucht sei. Von ihren Ausbildungsinstitutionen würden die Neuen oft „total alleine gelassen. Die begleitenden Seminare sind überfüllt oder man bekommt gar keinen Platz.“

Häufig bekomme sie Anrufe von Männern oder Frauen, die an ihrer Schule den Quereinstieg machen wollen, sagt sie. Fragt sie nach Vorerfahrung, führten die Anrufer manchmal Elterndienste in der Kita an. „Die machen sich oft falsche Vorstellungen: Das alles ganz einfach mit Grundschülern sei, die seien ja noch so süß …“ Ein Meeresbiologe habe ihr mal am Telefon von seinen Forschungsvorhaben berichtet. Sie wiegt zweifelnd den Kopf. „Wenn ich sage, ,Frau Müller ist krank, gehen Sie in die 1b!’, dann muss das klappen.“ Mit Urióstegui ist sie sehr zufrieden. „So ein junger Mann, sportlich, agil, der kommt bei den Kindern an.“ Außerdem habe er gute Ideen, treffe den richtigen Ton.

Spannbreite des Könnens

Ein Fachseminarleiter, der anonym bleiben will, sagt, dass die Spannbreite des Könnens unter den Quereinsteigern größer ist als unter den Lehramtsstudenten. Manche seien durch ihren ersten Beruf geschickt in der Selbstorganisation und so lebenserfahren, dass Uniabsolventen nicht mithalten könnten. Aber es gebe auch mehr „Totalausfälle“. Frauen und Männer, die früher aus gutem Grund nicht auf Lehramt studiert haben, in anderen Berufen gescheitert sind, und die letzte Ausfahrt in den Schuldienst genommen haben. Selbst für die Guten sei das Ausbildungspensum kaum zu bewältigen. Er habe erlebt, wie lebensfrohe Menschen zu ausgelaugten Zombies geworden seien. Normale Referendare müssten nur rund halb so viele Wochenstunden wie die Quereinsteiger unterrichten. Der Fachseminarleiter plädiert für eine stärkere Vorauswahl der Neuen. „Im Moment sind wir in der Situation, dass keiner abgelehnt wird.“ Und dass am Ende einer seine Prüfung nicht schafft, habe er auch noch nicht erlebt.

Kritik, auf die der Senat eingegangen ist. Die Unterrichtsverpflichtung von Quereinsteigern wird von 19 auf 17 Stunden reduziert. Umgekehrt heißt das aber auch, dass noch mehr Lehrer gebraucht werden. Zum Februar sind insgesamt wieder tausend Neueinstellungen nötig.

In einer Büroetage nahe der Leipziger Straße sitzen am frühen Abend hoch motivierte Interessenten mit Vorbildung, die gerne im Berliner Schuldienst anfangen würden. Doch sie haben keine Chance. Wie die junge Frau mit schwarz gelockten Haaren, die das Treffen organisiert hat. Sie hat das Falsche studiert: Kulturwissenschaften. Jetzt ist sie Trainerin bei Teach First und hat Nicolás Urióstegui und zwei weitere Alumni eingeladen, um die sogenannten Fellows des laufenden Programms zu beraten. Ihnen gegenüber sitzt ein Mittdreißiger, Betriebswirt, der zurzeit an einer Neuköllner Sekundarschule unterrichtet und gerne im Schuldienst bleiben will. Einer vom Schulamt habe gesagt, berichtet er, dass BWL-Studenten kategorisch vom Quereinstieg ausgeschlossen seien. An seiner Schule hätten sie gemeint, dass sie ihn sehr schätzten, aber auch nichts für ihn tun könnten.

Überfüllte Seminare

Einer der Alumni rät, er solle das Ganze sportlich nehmen: Ein Sachbearbeiter sage nein, der andere ja. Urióstegui rät zu Beharrlichkeit. Bereits 2013 habe er sich beworben. Da hieß es: Sport ist kein Mangelfach. Der erneute Versuch sei es wert gewesen: „Die Verantwortung für 25 Kinder ist viel anspruchsvoller als für irgendwelche Budgets“, sagt er.

Der Fellow sieht das auch so, will sich den Lehrerberuf nicht erzwingen: „Ich mache gut, was ich mache. Wenn die mich nicht wollen, dann ist es auch okay.“

Auf dem Heimweg sagt Urióstegui, dass er die Trotzhaltung des Teach- First-Fellows verstehen könne. Er habe sich durchringen müssen, sich für den Beruf zu entscheiden. „Da haben alle anderen auf dem Online-Berufsnetzwerk Xing diese blumigen Titel und bei dir steht: Lehrer“, sagt er. „Und dann wird es dir auch noch schwer gemacht.“ Dass er zum Beispiel auf seinen Platz im Deutschseminar warten muss – dadurch zieht sich seine Ausbildung um ein weiteres Jahr in die Länge. Auf Deutsch folgen ein Jahr Mathe und anderthalb Jahre Referendariat. Mit 39 sei er fertig, rechnet er vor. Ein langer Weg. „Zumal ich das ja nicht ewig machen will. Keiner meiner bisherigen Jobs war so anstrengend. Meine Generation wechselt immer mal wieder den Beruf“, erklärt er. Bald wird es die ersten Queraussteiger geben. Die große Lehrersuche geht weiter.

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