52. Deutscher Historikertag: "Gespaltene Gesellschaften" von der Antike bis heute
Der Historikertag schaut auf „Gespaltene Gesellschaften“. Geschichtliche Parallelen etwa zum alten Rom bieten sich an, können aber auch hinken.
Sozialstaatlich gegen marktradikal, fortschrittlich gegen rückwärtsgewandt, global gegen nationalistisch, erneuerbar gegen fossil: In jüngerer Zeit scheinen sich die Fronten auf diversen Feldern des Politischen zunehmend zu verhärten. Der Ton ist rauer geworden, die meisten Gesellschaften des sogenannten Westens sind in sich tief verstritten. Ein über das bessere Argument herbeigeführter Konsens scheint in Fragen der Ökologie, der Migration, der Sozialpolitik, ja der richtigen Lebensform insgesamt, eine märchenhafte Vorstellung zu sein. Nach der neuesten Studie des Meinungsforschungsinstituts Allensbach zum Stimmungsbild der „Generation Mitte“ beklagen 67 Prozent der 30- bis 59-jährigen Deutschen eine deutliche Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.
Dass sich der Deutsche Historikertag in diesem Jahr mit dem Topos „Gespaltene Gesellschaften“ befasst, ist denn auch alles andere als zufällig. An der Universität Münster tauschen sich rund 3500 Historiker und Historikerinnen vom morgigen Dienstag bis zum Freitag über gesellschaftliche Spaltungen und Spannungen in allen Epochen und auf allen Kontinenten aus. Zweifellos ist der Konflikt in Sachen Lebensführung kein Alleinstellungsmerkmal des 21. Jahrhunderts. Doch was kann die Geschichtswissenschaft zur aktuellen Debatte um den wachsenden Riss im sozio-politischen Gefüge beitragen?
Den Gegner diffamieren, um die eigene Gruppe zu einen
Der Althistoriker Martin Jehne, der in Dresden zu Formen von „Invektivität“ – also über Phänomene der Schmähung und Herabwürdigung – in den Polit-Arenen der römischen Antike forscht, meint, ein gewisses Maß an Spaltung sei wohl in allen Gesellschaften vorhanden und eine menschheitsgeschichtliche Konstante. In der römischen Republik zum Beispiel sei eine harte Auseinandersetzung, bei der die Kontrahenten in den einschlägigen Kommunikationsräumen bis tief unter die Gürtellinie gegangen seien, ein verbreiteter Modus des Politischen gewesen.
Dabei, so Jehne, habe man den Gegner vor allem deshalb diffamiert, um die eigene Gruppe zusammenzuschweißen. Die rigorose Abgrenzung nach außen, das Heraufbeschwören und Schändlichmachen des wirklichen oder vermeintlichen Gegners, ist also nicht erst in jüngerer Geschichte eine wirksame Technik kollektiver Identitätsbildung. Nicht erst mit dem Internet, auch im alten Rom, sagt Jehne, habe es schon Formen von nach Zustimmung und Applaus heischender „Hate Speech“ gegeben. „Auch wenn üble Schmähungen an der Tagesordnung waren und man sich im politischen Ring gegenseitig ordentlich einschenkte, blieben die verschiedenen Akteure und Parteien trotzdem prinzipiell gesprächsbereit und gingen auch teilweise kurze Zeit später schon wieder gemeinsame Projekte an“, erklärt der Althistoriker die Verhaltensgrammatik römischer Senatoren. Der gesunde Disput sei, solange er eine Möglichkeit zur Versöhnung offenlasse, für eine funktionierende Gesellschaft unabdingbar; nicht selten würden neue Ideen im Spannungsfeld streitender Positionen geboren.
"Schmähgemeinschaften" wie Pegida und die AfD
Wenn das Versöhnliche aber nicht mehr existiere, ein Konsens über grundsätzliche Werte und Richtlinien des Zusammenlebens abhandenkomme, werde es für eine Gesellschaft und ihr Fortdauern gefährlich. Das lehre die Geschichte, sagt Jehne. Wenn das normative Fundament, das den Streit untermauert, erodiert, ist der Kippmoment erreicht. Die Debatte ist dann nicht mehr produktiv, führt weniger zu neuen Impulsen als vielmehr in den endgültigen Niedergang. Es ist nach Jehne also keineswegs so, als böten die heutigen gesellschaftlichen Spaltungen allein deshalb einen Grund zur Gelassenheit, weil im Politischen schon immer gepöbelt wurde.
Folglich hinkt der Vergleich zwischen den ritualisierten Kämpfen römischer Senatoren und heutigen „Schmähgemeinschaften“ wie Pegida und der AfD vor allem deshalb, weil der Diskurs der Letzteren auf einen Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen zielt, betont Jehne. Auch sei es absurd, dass die, die am lautesten gegen den normativen Grundkonsens anschreien, ein Gesellschaftsmodell propagieren, in dem das sogenannte Volk bloß mit einer einzigen Stimme sprechen soll.
Die im Ton und in der Sache durchaus hart geführten Debatten im römischen Senat haben dem Historiker zufolge mit der rassistischen und menschenfeindlichen Hetze, die nicht zuletzt auch aus den anonymen Weiten des Internets in die Straßen und Parlamente der meisten zeitgenössischen Demokratien geschwemmt ist, letztlich eher wenig gemein.
Totale Harmonie gibt es nur in totalitären Systemen
Auch Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, der den 52. Historikertag ausrichtet, hält Heterogenität und ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Spaltung für unumgänglich. Totale, weil erzwungene Harmonie gibt es nach Schlotheuber allenfalls in totalitären Systemen. Demokratien bräuchten insbesondere in Zeiten des Umbruchs eine intensive Auseinandersetzung über wichtige Themen in allen Schichten der Gesellschaft, weshalb es kein Ziel vernünftiger Politik sein könne, den zunächst einmal produktiven Streit dauerhaft zu beenden.
Ein permanenter Konsens ist mit dem Staatsrechtler Christoph Möller gesprochen also „kein demokratisches Ideal“. Dies bedeutet für Eva Schlotheuber aber nicht, dass alle Formen gesellschaftlicher Spaltung grundsätzlich zu begrüßen seien. Auch wenn jedes Zeitalter seine ureigenen Kontingenzen aufweise und die Historie sich nicht wiederhole, würden wir doch aus der Geschichte als unserem gemeinsamen Erfahrungsraum wissen, wann eine Spaltung gefährlich werde.
Mit Blick auf diesen Erfahrungsraum könne man jedenfalls festhalten, dass eine wachsende soziale, ökonomische oder bildungsbedingte Schere Gesellschaften massiv gefährde, sagt Schlotheuber. „In der Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten muss man aufpassen, nicht der unterkomplexen Art ihrer Problemstellung und den daraus gezogenen politischen Lehren auf den Leim zu gehen.“ Andernfalls trage man dazu bei, den Diskurs gefährlich zu verschieben und Positionen salonfähig zu machen, die aus gutem Grund in die Mottenkiste der Geschichte gehörten. Es gelte vielmehr, jene tiefer liegenden Probleme der Ökonomie, der gesellschaftlichen Wertschätzung und des sozialen Aufgehobenseins zu adressieren, aus denen die Populisten Kapital schlügen.
Highlights auf dem Historikertag
Der Historikertag beginnt am Dienstagabend mit Eröffnungsreden von Wolfgang Schäuble, des Präsidenten des Deutschen Bundestages, und seiner Amtskollegin Khadija Arib aus den Niederlanden, die Partnerland sind. Zu den Programmhighlights gehört ein Vortrag des australischen Historikers Christopher Clark über den „Kulturkampf als Gesellschaftsentzweiung“. Die Direktorin des Orient-Instituts in Beirut, Birgit Schäbler, spricht über die Frage, wie gespalten nahöstliche Gesellschaften sind. Der Deutsche Historikertag findet alle zwei Jahre an einer deutschsprachigen Uni statt, zuletzt 2016 in Hamburg. Zum vollen Programm des Historikertags geht es hier.