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Geschichtsglauben. Die vermeintlich rationale Wissenschaft liegt manchmal näher am irrationalem Glauben als behauptet, hieß es auf dem 51. Deutschen Historikertag in Hamburg. So seien die Beziehungen zwischen Mythen und Geschichtsschreibung eng. – Das Foto zeigt das Rubens-Gemälde „Minerva beschützt Pax“ (1629), eine Friedens-Allegorie.
© Uta Rademacher/dpa/p-a

Deutscher Historikertag: Politische Religionen

Der 51. Deutsche Historikertag in Hamburg stellte Glaubensfragen. Bei der Vorgeschichte des Syrienkriegs brauchten die deutschen Spezialisten aber internationale Nachhilfe.

Schon der Ort offenbarte Sinn für Geschichte. Im Festsaal des Hamburger Rathauses streift der Blick über ein Historienpanorama des Malers Hugo Vogel, dessen Pinselstriche Hamburger Lokalgeschichte schreiben – von der Besiedlung des Elbtals über die Hanse bis zum modernen Hafen. Die feierliche Eröffnung an prunkvollem Ort war extra vorverlegt worden, damit der Außenminister persönlich den 51. Deutschen Historikertag eröffnen könne, doch dann holte die Gegenwart die Vergangenheitsexperten ein. Frank-Walter Steinmeier musste kurzfristig zur UN-Vollversammlung. Thema: die Syrienkrise. Dass der Chefdiplomat es sich dennoch nicht nehmen ließ, sein Grußwort live per Skype aus New York zu sprechen, beweist die hohe Attraktivität der Disziplin bei der Politik. Der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas, der alle zwei Jahre rund 3500 Hochschullehrer, Geschichtslehrer, Ausstellungsmacher, Fachjournalisten und Archivare mehrere Tage lang zusammenführt, wird traditionell durch Minister und Präsidenten eröffnet – eine Aufmerksamkeit, die andere akademische Disziplinen entbehren müssen. Dass diese Umarmung durch die Politik auch etwas Erdrückendes haben kann, spiegelte sich in einer Anekdote.

Syrien und der Westfälische Frieden: Epochale Vergleiche sind nicht sonderlich beliebt

Während hinter ihm die Sonne über dem East River aufging, erzählte der Minister wie, als er unlängst mit saudischen Intellektuellen in Arabien zusammensaß, einer ausgerufen habe: „Was uns fehlt, ist Euer 1648!“ Damit war nicht etwa die Nummer einer UNO-Resolution gemeint E- sondern die Jahreszahl im christlichen Kalender, die für den Westfälischen Frieden steht. Steinmeier zufolge dient das Vertragswerk aus dem 17. Jahrhundert, das dereinst den Dreißigjährigen Krieg beendete, einem diplomatischen Think-Tank heute als Zukunftsmodell für eine mögliche Befriedung des Nahen Ostens.

Diese Nachricht mag immerhin die Frühneuzeit-Forscher im Saal ob der ungeahnten Aufwertung ihrer Epoche für die Gegenwart erfreut haben. Unter Fachhistorikern sind derart epochale Vergleiche allerdings nicht sonderlich beliebt. Nicht nur dürften Militärhistoriker Zweifel an der Analogie zwischen den Musketen-Gefechten frühneuzeitlicher Landsknechte und einem transatlantischen Luftkrieg hegen; auch die Gleichsetzung der heutigen arabischen Welt mit dem vormodernen Europa ist nahe an einem eurozentrischen Geschichtsbild, das zu vermeiden nicht nur der Minister, sondern auch der Historikertag sich eigentlich vorgenommen hatten.

Begriffe wie „global“, „transnational“ oder „interterritorial“ flirrten durch die Grußworte wie ein Mantra, das die Lücke zur zunehmend populären Globalgeschichte schließen soll, die sich auf einem konkurrierenden Kongress mittlerweile weltweit vernetzt. Mit dem Gastland Indien weitete nun auch die deutsche Historikerversammlung erstmals ihren Horizont bis nach Asien. Vielleicht musste man die Anekdote des Ministers jenseits ihres Wahrscheinlichkeitsgehaltes aber auch als eine Art Gleichnis lesen, das ins eigentliche Motto des diesjährigen Kongresses führte. Unter dem bewusst weit gefassten Titel „Glaubensfragen“ widmeten sich etliche Sektionen dem Thema Religion, das schließlich auch den aktuellen Syrien-Konflikt grundiert.

Rationale Wissenschaft und irrationaler Glauben?

Ein Panel zum „Geschichtsglauben“ verwischte gleich eingangs die vermeintlichen Unterschiede zwischen rationaler Wissenschaft und irrationalem Glauben. Die Hamburger Alt-Historikerin Kaja Harter-Uibopuu zeigte anhand von Inschriften im panhellenischen Heiligtum Olympia auf dem Peloponnes die engen Beziehungen zwischen mythischen Vorstellungen und Geschichtsschreibung auf: Selbst Datierungen wurzeln im Hintergrund religiöser Sinnwelten. Dass solche Verbindungen keineswegs ein Phänomen der alten Welt sind, demonstrierte der Afrika-Historiker Christoph Marx (Duisburg-Essen) am Beispiel der Ruinenanlage von „Ophir“ in Simbabwe. Generationen von Forschern missinterpretierten die afrikanischen Palastbauten als ein von „Weißen“ errichtetes Monument aus biblischer Zeit, weil der fast schon religiöse Glaube an die Überlegenheit der eigenen Kultur den Blick für die afrikanischen Ursprünge auch dann noch vernebelte, als die Fakten längst bekannt hätten sein müssen.

Auch erklärt säkulare Staaten führten kirchliche Rituale nahtlos weiter

Solche Durchdringungen von Politik und Religion machten die Neuzeithistoriker Martin Baumeister (Rom) und Heléna Tóth (Bamberg) auch in den Autoritarismen des 20. Jahrhunderts aus. Tóth zeigte anhand der Namensweihe in der DDR und in Ungarn, wie selbsterklärt säkulare Staaten kirchliche Rituale nahtlos weiterführten. Schon im faschistischen Italien hatte die katholische Märtyrerverehrung unmittelbar in einen Opferkult gemündet, ergänzte Baumeister, der sich gegen die Bezeichnung „pseudo-religiös“ wehrte: Es handele sich vielmehr um politische Religionen. Unterstützung erhielt er bei dieser weit reichenden Auslegung von dem Bochumer Emeritus Lucian Hölscher, der darauf hinwies, dass auch Menschen, die sich selbst als „säkular“ bezeichnen, sich mit dieser Einschätzung direkt auf die Religion beziehen und damit durchaus am Glauben partizipieren – wenn auch ex negativo. Ähnlich äußerte sich der aus Indien stammende Stargast der Tagung, der Historiker Sanjay Subrahmanyam (Los Angeles), der in seiner verschmitzt-hintersinnigen Festrede in der Laeiszhalle so ziemlich alle gängigen Grenzen des Religiösen in Frage stellte und stattdessen konstatierte, jede Definition einer Religion verändere deren Wesen schon im Moment ihrer Formulierung.

Viele Moslems kamen als Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg

Wie wenig die hiesige Geschichtsschreibung aber zur Vorgeschichte der derzeit brennenden Fragen der Islamisierung, der globalen Migration und der religiösen Konflikte zu sagen hat, machte die Besetzung der Sektionen zum Islam deutlich. Hier mussten internationale Spezialisten in die Bresche springen, um ihren deutschen Kollegen Nachhilfe zu erteilen. Mehdi Sajid und Umar Ryad (beide Utrecht) erhellten die Ursprünge der ersten muslimischen Gemeinden in Deutschland. Viele Moslems kamen als Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg, wo im sogenannten Halbmondlager bei Wünsdorf südlich von Berlin eine der ersten Moscheen auf deutschem Boden errichtet wurde – Vorläufer des noch immer existierenden Wilmersdorfer Gebetshauses. In den zwanziger Jahren avancierte dann Weimar zum Zentrum der muslimischen Migration, die sich teils bewusst in die Tradition der Weimarer Klassik stellte – und etwa an Goethes Schriften zum Koran anknüpfte. Selbst ins „Dritte Reich“ waren viele Muslime auf unrühmliche Weise bestens integriert, wie David Motadel (Cambridge) an der Biographie des studierten Philosophen Alimjan Idris zeigte, der für das Auswärtige Amt antijüdische Propaganda verfasste und eine Übersetzung von Hitlers „Mein Kampf“ ins Arabische begann.

Die Zunft zieht ihre Bedeutung aus polemisch geführten Kontroversen

Die neu kommentierte Ausgabe dieser Hetzschrift, die das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) nach dem Verfall der Urheberrechte im Mai diesen Jahres herausgab, stand im Zentrum einer Diskussion, die vorhersehbar in den mittlerweile schon traditionell dem Fach zugeschriebenen Modus des Streits fiel. Wenn auch mit dem Tod des Bielefelder Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler vor zwei Jahren und des Berliner Geschichtsphilosophen Ernst Nolte vor wenigen Monaten zwei Antipoden des „Historikerstreits“ der achtziger Jahre verschieden sind (und die Nachrichten vom Tode des NS-,Forschers Karl Dietrich Bracher und des Publizisten Klaus Harpprecht mitten in die Versammlung platzten) so bezieht die Zunft doch noch immer ihre Bedeutung aus heftig bis polemisch geführten Kontroversen. Der Freiburger NS-Spezialist Ulrich Herbert hielt dem IfZ-Direktor Andreas Wirsching vor, mit der Neuausgabe einen reinen Aufmerksamkeitseffekt erzielt zu haben: Tatsächlich sei fast nichts daran neu, die Kommentare seien seltsam schief geraten und die Edition daher wissenschaftlich völlig überflüssig. Mit diesen – von Wirsching parierten – Anwürfen gelang Herbert ganz nebenbei selbst ein Aufmerksamkeitseffekt – zumindest im Hamburger Hörsaal, der wegen Überfüllung geschlossen werden musste.

Ein ähnliches Interesse vermochte nur noch eine europäisch besetzte Podiumsdiskussion zu den Glaubenssätzen der neuen Populisten zu entfachen, die unter dem Titel „Von Haider bis Brexit“ sich den vielen Versuchen entgegenstellte, mit Geschichtsmythen Politik zu machen. Die derzeit modischen Erfindungen ethnischer Volksideen sprach Kiran Klaus Patel (Maastricht) an, und Thomas Mergel (Berlin) kritisierte die linken Opferdiskurse in Griechenland als ebenfalls populistisch.

Geschichte in der Schule stärken: als "Denkfach"

Wie wichtig vor dem Hintergrund frei flottierender Geschichtsmythen in sozialen Medien und aggressiv aufgeladenen Demonstrationen à la Pegida eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist, betonte abschließend Martin Schulze Wessel (München). Der turnusgemäß scheidende Vorsitzende des Historikerverbandes, dem mit der Düsseldorfer Mediävistin Eva Schlotheuber die erste Frau an der Verbandsspitze nachfolgt, mahnte, ein „kritisches Geschichtsbewusstsein“ entstünde nicht erst an der Uni, sondern schon in der Schule. Gerade hier steht es aber schlecht: Geschichtsunterricht findet oftmals nur noch als Teilelement einer „Gemeinschaftskunde“ statt oder wurde auf eine Unterrichtsstunde pro Woche reduziert. Zudem fehlt es an ausgebildeten Fachlehrern, wie der der Vorsitzende des Geschichtslehrerverbandes Ulrich Bongertmann (Rostock) kritisierte. Die von beiden Verbänden einstimmig verabschiedete Resolution zur Stärkung des Geschichtsunterrichts als Denkfach – und nicht etwa als Paukstunden für Jahreszahlen – wird Fachdidaktiker und Bildungspolitiker weiterhin beschäftigen. Aber auch die Jahreszahlen-Diskussion über die Aktualität der Jahre 1618-1648 lässt sich zum 400. Jubiläum weiterführen: Spätestens beim nächsten Historikertreffen 2018 am historischen Ort Münster.

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