Aktion "Deutschland spricht": Training für den Streitmuskel
Bei der Initiative "Deutschland spricht" debattieren 8470 Menschen Themen kontrovers. Ihre Gesprächsbereitschaft erhält Hochachtung - und eine Grenzsetzung.
Schon beim Betreten des Radialsystems am Spreeufer schlägt dem Besucher am Sonntagmittag ein gedämpftes Gemurmel entgegen. Nein, man hat wahrlich nicht den Eindruck ein steriles Gesellschaftslabor zu betreten. Die Stimmung gleicht eher dem Besuch eines sonntäglichen Frühstücksalons in gemütlicher Atmosphäre. Zwischen Kaffee und Croissants sitzen erste Diskussionspaare zusammen. Entspannte Geselligkeit und Gedankenaustausch greifen ineinander. Ein Bild, das nicht unbedingt stellvertretend für die Debattenkultur hierzulande steht.
Auf Initiative von „Zeit Online“ hatten sich elf deutsche Medienhäuser, darunter auch der Tagesspiegel, zusammengeschlossen, um Menschen am gestrigen Sonntag unter dem Motto „Deutschland spricht“ an einen Tisch zu bringen. Eine Aktion, die es hierzulande so nie gegeben hat – ein Experiment. Um Punkt 15 Uhr trafen sich exakt 8470 Menschen in ganz Deutschland in Kneipen, auf Parkbänken oder am heimischen Küchentisch. Paare, die von einem Algorithmus zusammengewürfelt worden waren. Regional möglichst nah beieinander, in der politischen Positionierung möglichst weit voneinander. Der einfache und doch so schwere Auftrag: Miteinander sprechen. Taxifahrer, Professoren, Feuerwehrmänner und Krankenpfleger beantworteten dazu im Vorfeld Fragen wie „Sollte Fleisch stärker besteuert werden, um den Konsum zu reduzieren?“, „Ist Donald Trump gut für die USA?“ oder „Können Muslime und Nichtmuslime in Deutschland gut zusammenleben?“
Unter den 500 Gästen, die am Sonntag im Radialsystem zusammenkommen, sind auch 50 der 4235 vermittelten Gesprächspaare, Leser und Leserinnen der Medienpartner sowie Vertreter aus Wirtschaft und Politik. Zu Beginn betont Schirmherr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede, dass die Wirklichkeit dieser Tage statt „Deutschland spricht“ leider zu oft „Deutschland brüllt“ bedeute. Darum sei er dankbar, dass sich Menschen dazu bereit erklärten, „für ein paar Stunden die Klischees und Komfortzonen, denen wir alle auf unterschiedliche Art und Weise anhängen, hinter uns zu lassen.“ Die Aktion „Deutschland spricht“ sei ein erster Schritt, die Mauern, die zwischen Lebenswelten entstanden sind, zu überwinden. Die aus der Freiheit erwachsende Vielfalt, gälte es auszuhalten, statt sich in Echokammern zu verschanzen: „Die Demokratie kennt keinen Endzustand.“ Die gegenseitige Rücksichtnahme der Gesprächspartner sei „weniger Ausdruck von Feigheit, sondern schlicht der Ausdruck gewachsener Zivilität.“
Hier spricht man über Ehe für Alle, dort über Migration
Auch der deutsche Blogger Sascha Lobo bekennt sich zur Idee von „Deutschland spricht“, stellt aber als Vorbedingung, eine klare, rote Linie gegenüber menschenverachtenden Ideologien wie dem Neonazismus zu ziehen. Deren Vertreter dürften nicht mehr Teil der Debatte einer demokratischen Gesellschaft sein.
Eva Schulz, Reporterin und Moderatorin von Deutschland 3000, fordert die Zuhörer dazu auf, offen dafür zu sein, die Meinung zu ändern. „Warum gilt es noch immer als Schwäche, sich überzeugen zu lassen? Warum ist es verpönt, sich einzugestehen, dass man im Unrecht ist?“ Aktionen wie „Deutschland spricht“ könnten dabei den Streitmuskel trainieren, der in einer Debattenkultur dringend benötigt werde.
Harald Martenstein, Kolumnist des Tagesspiegels, betont im Anschluss, dass „Hass kein exklusiver Bestandteil einer bestimmten politischen Richtung“ sei. Verachtung könne man nicht mit Gegenverachtung austreiben. Dieser Vorstellung hält er die Idee des Christentums entgegen, dem Hass mit Liebe zu begegnen: „Man muss den Hassern zeigen, dass sie trotz allem kein Dreck sind“. Wer hingegen Mitmenschen nicht mehr als Mitmenschen erkenne, sei immer gefährlich.
Mely Kiyak, Autorin und Kolumnistin von „Zeit Online“, spricht den Teilnehmern von „Deutschland spricht“ ihre Hochachtung aus: „Ich bewundere alle, die kommunikative Räume noch betreten“, denn wer heutzutage unversehrt bleiben wolle, halte in diesen Tagen den Mund und ziehe sich zurück. Mit Bezug auf die Ostpolitik von Willy Brandt, der einen „Wandel durch Annäherung“ anstrebte, gibt sie den Diskutanten einen Rat mit auf dem Weg: „Der Gegner wird immer weniger Gegner sein, um so mehr man sich ihm nähert.“
Dann verteilen sich die Zweierpärchen im Haus. Streitthemen für ausführliche Diskussion sind in diesen Tagen keineswegs rar gesät. Hier spricht man über die Ehe für Alle. Dort über die Migration. Und etwas weiter über autofreie Innenstädte. Eine sorgenvoll dreinschauende, ältere Teilnehmerin erkundigt sich bei den Organisatoren, wieviel Zeit sie denn dafür hätten: „Keine Sorge. Sie werden heute Abend nicht vor die Tür gesetzt, selbst wenn sie bis morgen früh diskutieren.“