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Der deutsche Astronaut Ulf Merbold in seinem Raumanzug im Gagarin-Trainingslager in der Nähe von Moskau, aufgenommen im August 1994. 
© picture alliance / dpa

Interview mit Ulf Merbold: „Dieser erste Blick aus dem Fenster“

Der deutsche Astronaut über das Gagarin-Erlebnis vor 60 Jahren, seine eigenen Flüge ins All, Wege zwischen Ost und West – und das, was jetzt kommen muss.

Herr Merbold, vor 60 Jahren ist Juri Gagarin als erster Mensch ins All geflogen. Wie haben Sie davon erfahren?

Zu jener Zeit im April 1961 war ich in West-Berlin. Ein halbes Jahr zuvor war ich dorthin von Thüringen aus geflohen, weil ich unbedingt Physik studieren wollte und das in der DDR nicht durfte. Mein Abitur wurde nicht anerkannt und ich musste ein 13. Schuljahr in West-Berlin absolvieren.

Wir waren eine ganze Klasse, die nur aus DDR-Abiturienten bestand, und hörten, dass es der Sowjetunion gelungen war, einen Menschen in die Erdumlaufbahn zu bringen. Das war eine grandiose Meldung: Juri Gagarin war ins Weltall gelangt und unbeschadet zurückgekehrt! Das fanden wir wirklich aufregend.

Sie haben dann Physik studiert und darin auch promoviert, wurden später - wie wir alle wissen - Astronaut. Gab es eine Initialzündung für diesen Berufswunsch, hatte das mit Gagarin zu tun?

Nein, das konnte man sich damals gar nicht richtig vornehmen, es gab weder eine deutsche noch eine europäische bemannte Raumfahrt. Nach dem Diplom in Physik gelangte ich ans Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart und blieb zehn Jahre in der experimentellen Wissenschaft.

Und dann erschien im April 1977 in den großen Tageszeitungen eine Anzeige, die im Auftrag der europäischen Raumfahrtagentur Esa eine Möglichkeit anbot, beim ersten Spacelab-Flug Experimente durchzuführen. Ich habe wirklich sehr gern geforscht, gerade dort am Max-Planck-Institut in Stuttgart, das hervorragende Bedingungen bot. Aber die Aussicht, ins All zu fliegen, war noch reizvoller.

Nach fünf Jahren Training und Vorbereitung sind Sie am 28. November 1983 mit der "Columbia" gestartet. Der Spaceshuttle wurde später bei einem Unfall zerstört, sieben Menschen starben. Hatten Sie Angst vor dem Flug?

Nein. Natürlich weiß jeder, dass eine solche Reise Risiken hat. Ich gehöre eher zu den Kopfgesteuerten und meine: Wenn Sie in ihrem Leben das Risiko minimieren wollen, müssen Sie im Bett liegen bleiben. Ich halte es für klüger, das Verhältnis zwischen Zugewinn und Risiko zu optimieren, das man dafür eingehen muss.

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Ich kann belegen, dass mein Puls während des Starts nicht über 76 hinausging. Bevor es aber losgeht, liegt man mehr als zwei Stunden im Shuttle auf dem Rücken und hat jede Menge Zeit, über die verschiedensten Dinge nachzudenken.

Was mich am meisten besorgt hat, war nicht, dass beim Start etwas schiefgeht, sondern ob ich am Ende der Mission allen Wissenschaftlern der 72 Experimente an Bord Daten in ausreichender Qualität würde liefern können. Ich hatte echt Angst, ein Experiment gegen die Wand zu fahren. Das war zum Glück nicht der Fall. 

Was ist Ihnen von Ihrem Raumflug besonders in Erinnerung geblieben? 

Der erste Blick aus dem Fenster. Diesen schwarzen Himmel zu sehen und den gekrümmten Erdhorizont, gesäumt von einer hinreißenden dünnen blauen Schicht, die einem die Sprache nimmt. Als Physiker weiß man, dass dies mit der Streuung an den Luftmolekülen zusammenhängt, aber das so zu sehen, das ist etwas ganz Besonderes. Ich war völlig verzaubert von der Schönheit und gleichzeitig bedrückt davon, wie zerbrechlich das ist. Ich mache mir seitdem immer wieder Gedanken, dass wir diesen Planeten bewahren müssen für die nachfolgenden Generationen.

Sollten möglichst viele Menschen diese einzigartige Perspektive auf unseren Planeten bekommen, auch mittels Weltraumtourismus? 

Ich gönne das jedem. Selbst erfahren zu dürfen, dass 90 Minuten genügen, die Erde zu umrunden, verändert die Maßstäbe in der eigenen Denkwelt. Die Erde wird zu einem kleinen Raumschiff, mit dem wir alle in der Schwärze des Alls unterwegs sind. Je mehr das erlebt haben, umso größer ist die Chance, dass sich unter den Mitfliegern dieses Raumschiffs die Erkenntnis durchsetzt, dass wir die Konflikte auf der Erde nicht mit Gewalt lösen, sondern einvernehmlich hier leben sollten.

Klar, warum sollten nicht auch Touristen diese Erfahrung machen? Was mir aber nicht gefällt bei den gekauften Flügen zur Internationalen Raumstation ist Folgendes: Diese Menschen haben mit ihrem Geld den Russen geholfen, ihre Bodenmannschaften zu bezahlen. Zu den investiven Kosten für die ISS haben sie nichts beigetragen. Das heißt, sehr reiche Leute sind zu Lasten des Steuerzahlers in den Weltraum gelangt. Es wäre besser, eine zweite Station zu bauen, ein Weltraumhotel, da können alle Interessierten hinfliegen zu einem Preis, der auch die Investitionen abdeckt. Je mehr die Chance bekommen, umso besser. 

Sie waren auf der Vorgängerstation, der "Mir", die von der damaligen Sowjetunion ins All gebracht und vor 20 Jahren gezielt zum Absturz gebracht wurde. Was war für Sie die größte Herausforderung dort, anstrengende Mitflieger, fehlende Privatsphäre oder etwas ganz anderes? 

Ich war nur einen guten Monat da und fand es nicht anstrengend. Im Gegenteil, ich wäre gerne noch geblieben. Man hat schließlich lange dafür trainiert und nun ist es endlich soweit. Man kann den Planeten 16 Mal binnen 24 Stunden umrunden, man sieht den gestirnten Himmel auf der Nachtseite und Millionen Lichter auf der Erde, Nordlichter und Gewitter.

Einige meiner Kollegen, die länger im Weltraum waren als ich, haben erzählt, dass sie nach ungefähr vier Monaten anfingen, die Tage bis zur Heimkehr zur Familie und Freunden zu zählen. 

Neben Gagarin und Ihnen waren bis heute fast 600 Menschen im All. Welches Ziel für die astronautische Raumfahrt sehen Sie bis 2050? 

Die große Herausforderung in diesem Zeitrahmen ist es, zum Mars zu fliegen. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Roboter Daten sammeln lasse oder ob sich der Mensch einer Örtlichkeit aussetzt, wo vorher noch keiner war. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Daten Sammeln und Begreifen. Als Student der Physik konnte ich schon vor dem Vordiplom ausrechnen, dass die Hälfte der Atmosphäre unterhalb einer Höhe von 5500 Metern liegt.

Begriffen, wie fragil die uns schützende Hülle in Wirklichkeit aber ist, habe ich erst, als ich mit eigenen Augen sah, wie dünn die königsblaue, hinreißend schöne Schicht ist, die den Horizont säumt. Vieles von dem, was wir heute wissen, verdanken wir Forschern, die in unbekannte Gebiete vordrangen und diese erkundeten. Wir sind herausgefordert, das fortzuführen.

Zum Mars und zurück, das ist um ein Vielfaches schwieriger als zum Mond zu gelangen. 

Deshalb ist es richtig, zunächst zum Mond zu gehen und dort eine Station zu betreiben. Denn wer zum Mars fliegt, braucht ein außergewöhnlich robustes technisches System, eine Kunstwelt, die ihn dort hinbringt und auch wieder zurück.

Wenn es auf dem Mond ein Problem gibt - vergiftete Kabinenluft, Probleme mit der Stromversorgung, Asteroideneinschlag - so ist es immer noch möglich, binnen drei Tagen zurück zur Erde zu kommen. Wenn man auf dem Weg zum Mars ist, geht das nicht. Daher denke ich, sollten wir als eine Fingerübung eine Station auf dem Mond bauen. Wenn wir genügend Betriebserfahrung damit haben, sollten wir auf jeden Fall zum Mars gehen
Ulf Merbold (79) stammt aus Wellsdorf in Thüringen. Er studierte Physik in Berlin und Stuttgart und nahm 1983 als erster Nichtamerikaner an einer Spaceshuttle-Mission teil. Merbold war damit nach Sigmund Jähn der zweite Deutsche im All. Zwei weitere Raumflüge folgten, auf die er sich unter anderem am Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum in Moskau vorbereitete. Später arbeitete er für die Esa.

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