Russlands Raumfahrt 60 Jahre nach Wostok-1: Was würde Gagarin dazu sagen?
Am 12. April 1961 umrundete Juri Gagarin als erster Mensch im Weltraum den Globus. Doch an den Ruhm der Vergangenheit anzuknüpfen ist derzeit besonders schwer.
Wenn Juri Gagarin 60 Jahre nach seinem historischen Flug vom 12. April 1961 und 53 Jahre nach seinem frühen Tod noch einmal zur Erde zurückkehren könnte, käme er aus dem Staunen nicht heraus.
Sein Land heißt nicht mehr Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), sondern Russische Föderation. Viel kleiner geworden ist es auch, weil viele Ex-Unionsrepubliken ihre Unabhängigkeit erlangten. Die Moskauer Straßen sind mit West-Karossen verstopft, die Auslagen der Boutiquen quellen vor Luxusgütern über. In den einst halbleeren Lebensmittelläden gibt es für die, die genug Geld haben, alles, was das Herz begehrt.
Und im Kreml, dessen Spasski-Turm mit dem Purpur-Stern inzwischen von futuristischen Wolkenkratzern überragt wird, herrscht nicht mehr die allmächtige Partei Lenins, sondern ein Dauerpräsident namens Wladimir Putin.
Beim Blick auf den Zustand der russischen Raumfahrt hätte Gagarin aber ein Déjà-vu: Die Sojus-Raumschiffe, bei deren fataler Premiere 1967 er selbst als Ersatzmann für seinen dann tödlich verunglückten Freund Wadimir Komarow fungierte, sind zusammen mit den gleichnamigen Trägerraketen auch heute noch das Rückgrat der Branche.
Die Raumschiffe starten weiter von Baikonour
Sie starten weiterhin vom Kosmodrom Baikonur, das nun aber gepachtet ist und zur Republik Kasachstan gehört. Selbst die Rampe, von der Gagarin selbst abhob, gibt es noch. Sie wird gerade unter anderem mit Geld aus den Vereinigten Arabischen Emiraten auf den neuesten Stand gebracht.
Auch die schwere Proton-Rakete, die mit inzwischen geächtetem hochtoxischem Dimethylhydrazin-Treibstoff fliegt, ist immer noch im Einsatz. Daneben sind sieben Saljut- und eine MIR-Raumstation sowie die Schwerlastrakete Energija samt dem nie bemannt in den Orbit gelangten Shuttle Buran schon längst Geschichte.
Der Sojus-Nachfolger startet frühestens 2025
Der Sojus-Nachfolger Orjol (Adler) startet frühestens 2025 das erste Mal bemannt vom neuen Kosmodrom Wostotschny im Amur-Gebiet, also von russischem Boden. Der Bau der Rampe für die dazugehörende schwere Angara-A5-Rakete hat gerade begonnen. Auch die Serienproduktion für diesen Proton-Nachfolger läuft inzwischen langsam an.
Hält man nach Raumfahrt-Highlights im Gagarin-Jubiläumsjahr Ausschau, stößt man etwa auf die Mondsonde Luna 25, deren Starttermin im Oktober 2021 allerdings aufgrund von Problemen mit dem Steuerungscomputer platzen könnte.
Dazu kommt das Wissenschaftsmodul Nauka. Die Ironie, dass es Teil der absehbar aber ihrerseits bald schon in Rente zu schickenden ISS sein wird, würde sicher auch Gagarin nicht entgehen. Möglicherweise gehört in diesen Zeiten auch der erste kosmische Spielfilm dazu, der im Oktober in der Internationalen Raumstation gedreht werden soll.
Mit dem Modul Nauka, das derzeit in Baikonur letzte Tests durchläuft, erhält das russische ISS-Segment jedenfalls nun mit vielen Jahren Verspätung erstmals eine veritable Forschungsbasis sowie einen dritten Schlafplatz und eine zweite Toilette. Mit der Mondsonde will das neue Russland nach 45 Jahren die Forschungsserie fortsetzen, die 1976 nach Luna-24 jäh abgebrochen worden war.
Keine zentrale Festveranstaltung
Von einem Gagarin-Hype ist in Russland derzeit nicht viel zu spüren. Wegen der Pandemie wird es keine zentrale Festveranstaltung geben. Feiern sind an seinen ehemaligen Wirkungsstätten in der Provinz geplant. Das für die Öffentlichkeit geschlossene Kosmonautenausbildungszentrum im Sternenstädtchen bei Moskau, das nach Gagarin benannt ist, zeigt in einer Ausstellung erstmals bislang unter Verschluss gehaltene Dokumente von Gagarin und seinem Fluglehrer Serjogin. Und die Weltraumorganisation Roskosmos hat auf ihrer Homepage eine interaktive Seite eingerichtet, die bei genauerem Hinsehen sogar einige neue Aspekte im Leben des Jubilars offenbart.
Ein symbolischer Höhepunkt des Jubiläumsjahres war der Start von Sojus MS-18 am 9. April mit den Russen Oleg Nowizki und Pjotr Dubrow sowie dem Amerikaner Mark Vande Hei zur ISS. An der sonst stets schmucklosen Rakete prangte diesmal an der Nutzlastverkleidung ein Emblem mit Porträt und Autogramm Gagarins sowie ein Stern und die Inschrift "60 Jahre erster Flug eines Menschen in den Weltraum 1961-2021".
Bei einer Begegnung mit dem Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin würde Gagarin sicher erfahren, wie sehr dieser sich abmüht, der nach dem Ende der UdSSR totgesparten einstigen Vorzeigebranche wieder Leben einzuhauchen. Ideen hat der alerte Manager genug, aber viel zu wenig Geld. Auch drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion ist ein Teil seines Jobs, alte, verkrustete Strukturen aufzubrechen und Doppelproduktionen abzuschaffen, Personal abzubauen.
Ein wirksames Qualitätsmanagement zu installieren ist ein weiteres Projekt. Attraktivere Löhne, die mehr geeigneten Nachwuchs anziehen könnten, wären ebenfalls notwendig.
Alles das kostet nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit. Die hat Rogosin eigentlich nicht. Eines der Schlüsselwörter in diesem Mammutprozess lautet Kommerzialisierung. Die Amerikaner machen ihm gerade in Gestalt von SpaceX, Boeing und Northrop Grumman tagtäglich vor, wie es laufen könnte.
Eine eigene Raumstation Russlands?
Die NASA, die sich auch unter Präsident Joe Biden – der Putin gerade einen Killer genannt hat – auf bemannte Mondmissionen und den Mars konzentriert, hat den Konzernen die ISS im niedrigen Erdorbit de facto fast vollständig überlassen. Da die Amerikaner inzwischen auch die Sojus-Zubringer-Dienste nicht mehr brauchen, hat es Russland besonders schwer, im Kampf um Weltmarktanteile mitzuhalten. Sie bewegen sich bisher im einstelligen Bereich. Und dann sind ja da noch die westlichen Sanktionen.
Das Angebot Bidens, sich am Gateway-Projekt zum Bau einer Raumstation zu beteiligen, die den Mond umkreist, hat Russland mit dem Hinweis abgelehnt, das sei nur nach dem ISS-Vorbild auf gleichberechtigter Grundlage möglich. Doch das wollen die Amerikaner nicht. Rogosin muss sich also etwas einfallen lassen. Es könnte darauf hinauslaufen, nach Ende des derzeitigen ISS-Vertrages 2024 eine eigene nationale Raumstation zu montieren, mit neuen Trägerraketen den Anteil an den weltweiten kosmischen Startdienstleistungen signifikant zu erhöhen und international neue Verbündete zu suchen.
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Zudem muss Ersatz für die Einnahmen aus den wegfallenden Taxi-Diensten für US- und Esa-Astronauten her, die jetzt mit den amerikanischen Privatraumschiffen zur ISS fliegen. Die favorisierte Lösung ist offenbar derzeit, das Angebot für Raumfahrerinnen und Raumfahrer aus kleineren Ländern und solvente Weltraumtouristen offensiv zu steigern.
Raumfahrtdiplomatische Zeichen
Die Esa ist zwar für Russland ein Wunschpartner in der neuen Phase. Sie hängt aber am Tropf der Amerikaner und ist schon froh, mit dem bei Airbus gebauten Europäischen Service-Modul (ESM) für die zukünftigen Orion-Raumschiffe wenigsten einen Fuß in der bemannten und befrauten Raumfahrt zu behalten.
Seine Marschroute hat Rogosin Mitte März wie folgt formuliert: Die Roskosmos werde in der Raumfahrt ungeachtet der im Vergleich zu China und den USA viel geringeren finanziellen Möglichkeiten die von Präsident Putin gestellten "prinzipiell wichtigen Aufgaben" erfüllen. Dies werde nicht im "Kampf mit Zahlen" gelingen, sondern mit Hilfe von "Sachverstand und Traditionen".
Dabei hätten Verteidigung und Sicherheit des Landes aber "unumstrittene Priorität". Vieldeutig fügte er hinzu: "Ich hoffe, dass wir schon in diesem Jahr unsere Landsleute mit grundlegend neuen Ergebnissen auch in dieser wichtigen Sphäre unserer Arbeit erfreuen können."
Warum musste Gagarin sterben?
Ein erstes, auch raumfahrtdiplomatisch richtungsweisendes Achtungszeichen hat Russland gerade gesetzt: Es hob am 9. März mit China als Partner und als Antwort auf die NASA das gemeinsame Projekt einer Internationalen Wissenschaftlichen Mondstation (IWMS) aus der Taufe. Als eine Art ISS 2.0 soll es allen interessierten Ländern und Organisationen und nicht nur den hochentwickelten Industriestaaten offenstehen. Daneben arbeitet Moskau aber weiterhin auch an einem nationalen Mondprogramm mit weiteren Luna-Sonden und einer ersten bemannten Mondmission 2030.
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Nicht nur Gagarin, der heute 87 Jahre alt wäre - und damit deutlich jünger als andere, noch lebende Raumfahrveteranen wie Wladimir Schatalow oder Frank Borman - würde aber auch etwas anderes sicher interessieren: wie und warum er sterben musste, bei jenem Absturz 1968. Inzwischen sind zwar viele Details ans Tageslicht gekommen, darunter auch ein spezielles KGB-Dossier, in dem Namen von Offizieren genannt werden, die Gagarin mit falschen Wetterdaten losgeschickt haben und für technische Versäumnisse verantwortlich gewesen sein sollen. Die Regierung aber verweigert kategorisch eine neue Untersuchung als "nicht zielführend".
Der bekannteste bis vor kurzem noch lebende Kosmonauten-Veteran Alexej Leonow steuerte eine abenteuerliche Eigenversion bei, in der Wladimir Putin eine Hauptrolle spielt. Leonow wollte jedenfalls vom Präsidenten persönlich den Namen eines Piloten erfahren haben, der mit seinem Su-15-Jet in sehr hohem Tempo in nur 10 bis 15 Metern Entfernung an Gagarins Mig-15UTI vorbeigerast sei und diese aus der Bahn geworfen habe. Der Präsident habe ihn aber gebeten, den Namen nicht zu nennen, sagte Leonow 2019. Im Oktober desselben Jahres starb er.
Aufklärungsverweigerung der Regierung
Mit ihrer Aufklärungsverweigerung setzt die Regierung eine verhängnisvolle Tradition, die auch am 12. April 1961 praktiziert wurde, fort. Anstatt wahrheitsgetreu alle Einzelheiten dieses welthistorischen Ereignisses offenzulegen, hat die Sowjetführung damals unter anderem offiziell behauptet, der Flug sei problemlos verlaufen und Gagarin mit dem Raumschiff und nicht am Fallschirm sowie im "vorgesehenen Gebiet" gelandet.
Dem war mitnichten so. Auch Bilder vom Start der Wostok-Rakete, vom Landeort und vom Kosmonauten im Schutzanzug wurden erst viel später nachgeliefert. Auf Titelseiten von Zeitungen am 13. April 1961 weltweit - auch etwa des SED-Parteiorgans "Neues Deutschland" - gab es statt authentischer Fotos Zeichnungen himmelwärts strebender Fantasieraketen.
Der Autor war von 1966 bis 2007 Redakteur und Korrespondent der Nachrichtenagenturen ADN und ddp, unter anderem in Moskau. Er hat mehrere Bücher über Juri Gagarin verfasst und berichtet auf www.gerhardkowalski.com über Raumfahrtthemen.
Gerhard Kowalski