zum Hauptinhalt
Testfall Schulunterricht: Inwieweit die Öffnung der Schulen die Covid-19-Fallzahlen wieder steigen lassen kann, ist nach wie vor unklar.
© Andreas Arnold/dpa

Sars-CoV-2 im Computer: Die Modellierung des Covid-19-Infektionsgeschehens braucht mehr Daten

Computermodelle sind wichtige Werkzeuge des Infektionsschutzes. Aber ihrer Aussagekraft über weitere Entwicklungen sind Grenzen gesetzt.

Der sichere Abstand zum Sitznachbarn im Zugabteil, die Fallzahlen des kommenden Winters oder die Anzahl durch Infektionsschutz geretteter Leben: Computermodelle liefern Antworten auf Fragen, wie sich das neue Coronavirus Sars-CoV-2 verbreitet, wie effektiv Maßnahmen des Infektionsschutzes sind oder wie groß die Risiken, wenn Regelungen nicht eingehalten werden.

Seit Beginn der Pandemie füttern Forscher ihre Computermodelle mit frischen Daten und entwickeln die Berechnungen weiter, die den Aussagen zugrunde liegen. Können uns Computermodelle nun den Weg aus der Coronakrise weisen?

„Es fehlt uns immer noch viel, aber wir wissen mehr als früher“, sagt Mirjam Kretzschmar, die am niederländischen Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu in Bilthoven den Bereich mathematische Krankheitsmodellierung leitet.

Mögliche Zukünfte

Im Frühjahr wurden europaweit ganze Maßnahmenbündel eingesetzt, um die damals rasante Ausbreitung des neuen Virus mit Verdopplungen der Fallzahlen innerhalb weniger Tage einzudämmen: Ausgangsbeschränkungen, Einschränkungen des gesamten öffentlichen Lebens, Lockdown. Die Infektionswelle wurde erfolgreich abgebremst. „Aber es ist sehr schwer einzuschätzen, welche Maßnahme wie viel dazu beigetragen hat, da sie immer gleichzeitig mit anderen ergriffen wurde“, sagt Kretzschmar.

Rückblickend kann anhand von Erhebungen etwa zur Kontakthäufigkeit und zur Mobilität zumindest indirekt beurteilt werden, wie das Infektionsgeschehen beeinflusst wurde. So konnte eine Gruppe um Kai Nagel von der TU Berlin zeigen, dass die Mobilität zur Zeit der stärksten Beschränkungen und auch des deutlichsten Rückgangs der Infektionszahlen auf etwas mehr als ein Drittel beschränkt war. Wo Menschen sind und ob sie sich anstecken, hängt eng zusammen. Daran lässt sich anknüpfen.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Zudem ändert sich die Datenlage: Maßnahmen wurden schrittweise gelockert und Tests auf das Virus liefern fortlaufend Ergebnisse über die Ansteckungsrate in der Bevölkerung. Das ist Datenfutter für die Modelle, aber auch die Möglichkeit neue Faktoren mit einzubeziehen.

Derzeit ist etwa noch unklar, inwieweit die Öffnung der Schulen die Fallzahlen wieder steigen lassen kann. Modelle können die Infektionsraten von Schülern abbilden und auch mit dem vorhandenen Wissen darüber kombinieren, wie Kinder das Virus in ihrem Umfeld weitergeben.

Die Ergebnisse sind Projektionen: mögliche Zukünfte, die anhand der vorgegebenen Parameter auf ihre Wahrscheinlichkeit geprüft wurden. Im Fall der Schulöffnungen sind das etwa Infektionszahlen unter Kindern und Schulpersonal sowie Ansteckungsraten zu Hause und in der Schule.

Was wäre, wenn?

„Im Moment fehlen uns aber immer noch viele Parameter aus epidemiologischen Studien, die wir brauchen, um zu detaillierteren Darstellungen zu kommen“, sagt Rafael Mikolajczyk vom Institut für Medizinische Epidemiologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es sei durchaus ein Vorteil einfacherer Modelle, dass man auch bei dürftiger Datenlage nur wenige Annahmen treffen müsse, weil sie insgesamt vergleichsweise wenige Parameter berücksichtigen.

Mehr Parameter und, solange keine neuen Daten vorliegen, mehr Annahmen bewegten die Aussagen in den theoretischen Bereich: Was wäre, wenn?

Studien laufen, zum Beispiel um zu untersuchen, ob sich Familienmitglieder bei Kindern anstecken und ob die Erkrankung mit Symptomen in Erscheinung tritt. „Die Fallzahlen sind allerdings im Moment so gering, dass es schwer ist, Familien für die Studien zu rekrutieren“, sagt Kretzschmar.

Unerkannte Erkrankte

Die asymptomatischen Erkrankungen sind ein Problem für die Datenerhebung, da sie häufig nicht erfasst werden, und auch für die Modellierung, da unklar ist, wie viele Menschen sich bei Infizierten anstecken, die keine Symptome zeigen. Laut einer im Juni im Fachblatt „Jama“ veröffentlichten Studie könnten 40 bis 45 Prozent der Erkrankungen ohne Symptome verlaufen.

Dies erschwert auch die Infektionsbekämpfung. Die Zuordnung von erkannten Fällen zu Clustern, Häufungen der Infektion in Personengruppen, würde die Aufgabe der Gesundheitsämter erleichtern, Fälle nachzuverfolgen, um Kontaktpersonen ausfindig zu machen und weitere Ansteckungen zu verhindern.

„Asymptomatische Erkrankungen können dazu führen, dass wir die Bindeglieder in Infektionsketten nicht erkennen“, sagt Mikolajczyk. Dies könne aber auch auf eine Überforderung der Gesundheitsämter zurückzuführen sein. „Ich glaube, dass sich die Belastung der Gesundheitsämter in Deutschland regional sehr stark unterscheidet“, so der Epidemiologe. Im Ergebnis fehlen Daten, um die weitere Ausbreitung besser modellieren zu können.

„Wir stehen in der Modellierung noch eher am Anfang, weil es detaillierte Daten aus verschiedenen Epidemien nicht gibt“, sagt Kretzschmar. Zudem unterscheiden sich die Krankheitserreger und können nicht anhand eines einheitlichen Grundmusters beurteilt werden. „Es gibt nicht die eine Epidemiologie“, sagt Kretzschmar.

Dem entspricht auch, dass sich bislang keine größere Forschungscommunity wie etwa in der Klimaforschung herausgebildet hat. Bestehende Forschungsgruppen arbeiten meist unabhängig voneinander, was auch den Bedarf für mehr Förderung anzeigt.

„Es geht auch darum, besser für die Zukunft gewappnet zu sein“, sagt Mikolajczyk. Mit dem Auftreten neuer Krankheitserreger sei auch nach Covid-19 zu rechnen.

Zur Startseite