Schulstart mit vielen Unsicherheiten: Wie gefährlich ist das Experiment Schule?
Kinder und Corona - noch immer ist unklar, wie infektiös sie sind. Die wichtigsten Fragen im Überblick. Und: Welche Erfahrungen haben andere Länder gemacht?
Die meisten kehren heute wohl mit gemischten Gefühlen zurück in die Schulen. Die Freude darüber, die Kollegen und Klassenkameraden wiederzusehen, wird getrübt durch Unsicherheit, wie das Coronavirus auf volle Klassen- und Lehrerzimmer reagieren wird.
Wird es sich schleichend verbreiten, weil infizierte Kinder und Jugendliche meist nur geringe Erkrankungssymptome haben und die Viren womöglich unerkannt verteilen? Oder werden die Maßnahmen der Bildungssenatorin Sandra Scheeres und der Bildungsministerin Britta Ernst (beide SPD) eine Ausbreitung der Viren unter den rund 620000 Lernenden und 55000 Lehrenden der beiden Bundesländer verhindern können?
Seit Wochen wird darüber diskutiert, ob wirksam Abstand halten in Schulen überhaupt möglich ist, ob alle immer Maske tragen sollen oder nicht, ob ein Mix zwischen Homeschooling und Präsenzunterricht nicht sinnvoller wäre. Und je näher die Schulöffnung rückte, umso hitziger wurde die Debatte.
Noch immer ist unklar, welche Rolle Kinder und Jugendliche in der Pandemie und bei der Ausbreitung des Coronavirus spielen. Jede neu veröffentlichte Studie lieferte mal der einen, für uneingeschränkte Schulöffnungen plädierenden, und mal der anderen, die Gefahr für Lehrende und Lernende betonenden Seite Argumente.
[Lesen Sie hier: Alles, was Schüler, Lehrer und Eltern zum Schulbeginn wissen müssen. ]
Doch einzelne Puzzleteile ergeben noch kein Gesamtbild. Nach wie vor ist wenig darüber bekannt, wie das Virus von Kindern verschiedenen Alters verbreitet wird, welche Maßnahmen das am besten verhindern und welche davon überhaupt in den alles andere als personell und räumlich gut ausgestatteten Schulen durchzuhalten sind. Mit der Schulöffnung ist die Diskussion um den Spagat zwischen Bildung und Sicherheit also keineswegs beendet – im Gegenteil.
Das Experiment Schule hat erst begonnen. Immerhin ist es ein Versuch, bei dem wir mehr wissen als noch im März:
Wie schätzen Virologen die aktuelle Situation ein?
Die in der Coronakrise eigens eingesetzte Kommission der Gesellschaft für Virologie warnte am Freitag in einer Stellungnahme „vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und in der Übertragung spielen“. Das stehe nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Zwar befürworten die Virologen, darunter auch Christian Drosten von der Charité, „jede Maßnahme, die dem Zweck dient, die Schulen und Bildungseinrichtungen in der kommenden Wintersaison offen zu halten“. Aber wenn dort die angemessenen Präventions- und Kontrollmaßnahmen fehlen sollten, könne das in kurzer Zeit zu Ausbrüchen führen, die dann erneute Schulschließungen erzwingen.
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„Eine Unterschätzung der Übertragungsgefahren an Schulen wäre kontraproduktiv für das kindliche Wohlergehen und die Erholung der Wirtschaft“, heißt es in dem Papier. Zwar seien die Infektionsraten bei Kindern und deren Rolle in der Pandemie bisher nur unvollständig durch wissenschaftliche Studien erfasst.
Aber „unter bestimmten Umständen“ könne es sein, „dass Kinder einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Infektionen mit Sars-CoV-2 ausmachen“.
Wie infektiös sind Kinder?
Das hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: Zum einen von der Menge infektiöser Viren, die infizierte Kinder im Rachen und Atem haben. Diese Viruslast unterscheidet sich bei infizierten Kindern „nicht (oder nicht in klinisch relevantem Maß)“ von der Viruslast bei infizierten Erwachsenen, schreiben die Virologen.
Theoretisch, von der Menge der Viren in ihrem Rachen her, sind Kinder also genauso infektiös wie Erwachsene. Fraglich ist aber, ob das in der Realität genauso ist, also ob sie genauso viele Menschen anstecken, weniger oder sogar mehr als Erwachsene. Die Datenlage zu diesem zweiten Faktor, der Übertragungshäufigkeit in realen Situationen, sei „schwierig“, sagt die Virologen-Kommission.
Zwar werden Kinder wohl ebenso häufig von anderen infiziert, aber wie häufig sie das Virus weitergeben, sei nach wie vor „unklar“. Auch weil Studien, die das untersucht haben, etwa in Baden-Württemberg, zumeist in Zeiten mit Kontaktbeschränkungen stattfanden, also wenig Aussagekraft für Situationen mit mehr Kontaktmöglichkeiten haben.
Welche Erfahrungen haben andere Länder mit Schulöffnungen gesammelt?
Eher entwarnende Ergebnisse kommen von einer Studie aus Israel, die Kinder als „halb so empfänglich für die Infektion wie Erwachsene“ einstuft – allerdings handelt es sich dabei um eine Modellrechnung auf Basis statistischer Rekonstruktionen von Übertragungsverläufen.
Eine Studie aus China will eine etwa gleich hohe Infektionshäufigkeit festgestellt haben, ebenso eine aus Südkorea an einer Schule für Zehn- bis 19-Jährige. Forscher in Italien hingegen, die im März und April über 2800 Covid-19-Infizierte und deren rund 6700 Kontakte untersucht haben, kommen zu dem Schluss, dass von Kindern unter 15 Jahren mehr Infektionen ausgehen als von Erwachsenen, womöglich wegen des ausgeprägteren oder ungehemmteren Kontaktverhaltens.
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„Das größte Risiko der Übertragung zu Kontakten ging von 14 Fällen mit einem Alter von unter 15 Jahren aus“, schreibt die Forschungsgruppe um Mariagrazia Zuccali von der Trienter Gesundheitsbehörde in einer noch nicht begutachteten Studie auf MedRxiv. Acht dieser 14 Kinder infizierten elf ihrer 49 Kontakte.
Wie interpretieren Forscher die bisherigen Studienergebnisse?
Das Wissen über Sars-CoV-2 entsteht gerade erst. Forscher diskutieren daher jede neu veröffentlichte Studie, mitunter auch kontrovers. Das ist aber kein „Streit“, sondern Teil der fachlichen Einordnung von Evidenz.
Dabei wird jede getroffene Aussage in einer Studie daraufhin überprüft, ob die Daten die Interpretation der Ergebnisse stützen. Nicht jede Untersuchung hat daher das gleiche Gewicht. So ist etwa die Bedeutung von Studien mit vielen Teilnehmern größer als jene mit nur wenigen Untersuchten. Schulstudien während einer Virusausbreitung sind aussagekräftiger als solche aus virusfreien Zeiten, randomisierte Doppelblindstudien sind valider als die durchaus wichtigen, aber subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen einzelner Ärzte.
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Das (Zwischen-)Ergebnis, zu dem die Ad-hoc-Kommission der Virologen- Gesellschaft mit ihrer Analyse der Studienlage kommt, entspricht dem Urteil anderer, internationaler Experten, etwa des Epidemiologen Marc Lipsitch von der Harvard University, der Infektiologin Müge Çevik von der Universität St. Andrews und der Erziehungswissenschaftlerin Meira Levinson von der Harvard Graduate School of Education.
In einem Beitrag im „New England Journal of Medicine“ (oder auch hier) interpretieren auch sie die Datenlage so, dass Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre nur leicht oder gar nicht an Covid-19 erkranken, Kinder unter zehn Jahren seltener infiziert werden als Erwachsene, dass es aber „weniger klar“ sei, wie infektiös sie im Vergleich zu Erwachsenen sind.
Zwar sprächen einige Studien, in denen die Kontakte infizierter Kinder verfolgt wurden, für eine geringere Infektiosität von Kindern. Aber die Beweiskraft dieser Untersuchungen sei gering und „einige der relevanten Studien fanden statt, als die Schulen geschlossen waren“.
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Anders als die deutschen Virologen weist das US-Trio aber auch jenseits von Studienanalysen auf – beruhigende – Beobachtungen in Frankreich und Israel hin, wo Covid-19-Ausbrüche in Highschools nicht auf benachbarte Grundschulen übersprangen. Das lege nahe, dass „die Empfänglichkeit, die Fähigkeit zur Ansteckung anderer oder beides unter jüngeren Kindern geringer ist“.
Welche Ratschläge lassen sich daraus ableiten?
Die Erfahrungen aus anderen Ländern sprechen dafür, dass Schulöffnungen kein Widerspruch zum Infektionsschutz sein müssen – unter bestimmten Bedingungen wohlgemerkt.
So wurden in den Niederlanden die Schulen im April geöffnet, allerdings nur mit halb so großen Klassen, aber ohne Distanzregeln für alle Kinder unter zwölf. Die Infektionszahlen nahmen nicht zu, auch nachdem die Schulen dort im Juni zum Normalbetrieb zurückgekehrt waren. In Dänemark, Finnland, Belgien, Österreich, Taiwan oder Singapur haben Schulöffnungen ebenfalls nicht zu steigenden Fallzahlen geführt.
Allerdings galten und gelten dort überall umfassende Distanzregeln. Und in den Ländern waren die Übertragungsraten in der Allgemeinbevölkerung gering, betonen Çevik, Levinson und Lipsitch – bei unter einem Fall pro 100 000 Einwohner. Nur in Israel war das anders, dort wurden die Schulen trotz vergleichsweise hoher Infektionsraten im Mai ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen geöffnet – und die Fallzahlen schnellten in die Höhe.
Das Fazit für die Politik sei, so Çevik, Levinson und Lipsitch: „Der sicherste Weg, Schulen vollständig zu öffnen, ist, die Übertragung in der Bevölkerung zu reduzieren oder zu eliminieren sowie die Test- und Überwachungskapazität zu steigern.“
Wenn Schulen geöffnet werden, raten sie – im Widerspruch etwa zur Ärzteorganisation „Marburger Bund“, die am Wochenende Masken im Unterricht für „sinnlos“ erklärte –, ausdrücklich zu „persönlichen Schutzmaßnahmen“ wie Masken, zum Abschotten der Schulen gegenüber allen, die dort nicht lehren oder lernen, und Kollegiumsbesprechungen digital durchzuführen.
Wie können sich Lernende und Lehrende am besten schützen?
Die Kommission der Virologen hat dazu konkrete Hinweise. So sollten Klassengrößen reduziert, „räumliche Ressourcen ausgeschöpft“ und „pragmatische Lösungen“ für einen verbesserten Luftaustausch gefunden werden, um das Infektionsrisiko über virushaltige Aerosole zu minimieren.
Es brauche „Konzepte zum ausreichenden Luftaustausch in Klassenzimmern“, sagte Isabelle Eckerle, Virologin an der Universität Genf und Mitautorin der Stellungnahme der Kommission der Gesellschaft für Virologie.
Das heißt etwa, Ventilatoren könnten die Aerosole durch die geöffneten Fenster blasen. Und die so oft geschmähte „Zugluft“ wird in Corona-Zeiten zum gesundheitsfördernden Faktor.
Außerdem raten die Virologen, Klassenverbände konstant zu halten und nicht zu „durchmischen“: „Digitale Lösungen mit einem Mix aus Präsenzunterricht und Heimarbeitseinheiten könnten weitere Möglichkeiten bieten, räumliche Kapazitäten zu entlasten.“
Auch für das „konsequente Tragen von Alltagsmasken in allen Schuljahrgängen auch während des Unterrichts“ sprechen sich die Virologen aus, wenn auch ausdrücklich „aus rein virologischer Sicht“. Eine konsequente Händehygiene sei „selbstverständlich“.
Aber die Forscher empfehlen auch, Lehrende und Lernende, die Symptome von Atemwegserkrankungen zeigen, möglichst rasch, binnen 24 Stunden, zu testen, denn sie spielten als „Anzeiger von Übertragungsherden (Clustern) eine unverzichtbare Rolle in der Früherkennung“ von Ausbrüchen. Sobald ein Fall erkannt ist, sollte für das Cluster, zu dem er gehört, also zum Beispiel der Klassenverband, eine Kurzzeitquarantäne erwogen werden – zur Prävention größerer Schulausbrüche.
Ob all diese Ratschläge in die Praxis umgesetzt werden, ist noch unklar. Bisher ist eine Pflicht für das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Unterricht in Berlin anders als in Nordrhein-Westfalen beispielsweise nicht verpflichtend. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, welche Konsequenzen das hat.