Corona-Herbst mit zweiter Welle?: So ließe sich eine Massenansteckung in der kalten Jahreszeit verhindern
Das Wissen über das Coronavirus entwickelt sich ständig weiter. Für die kühlere Jahreszeit sind neue Strategien im Kampf gegen Covid-19 gefragt. Ein Überblick.
- Richard Friebe
- Carsten Werner
- Patrick Eickemeier
AHA: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken – an diesen Dreiklang hat man sich gewöhnt. Die viel beschworene „neue Normalität“ ist da, Alltag mit dem Coronavirus normal geworden. Aber Gewöhnung macht leichtsinnig und nachlässig. Schon werden Städte wie Paris oder Marseille und ganze Länder wie Spanien wieder zu Risikogebieten erklärt, Italien führt eine nächtliche Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen ein und schließt Diskotheken und Nachtclubs wieder.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat am Wochenende in seinem Lagebericht eine alte Empfehlung wieder aufgenommen, die – als Vorschrift – schon ein wichtiges Element bei der Pandemieeindämmung durch den Lockdown im Frühjahr war: „Menschenansammlungen – besonders in Innenräumen – sollten möglichst gemieden und Feiern auf den engsten Familien- und Freundeskreis beschränkt bleiben.“ Denn neben Infektionen auf Reisen gebe es bundesweit eine große Anzahl kleinerer Ausbruchgeschehen durch Feiern, Partys, Freizeitaktivitäten, an Arbeitsplätzen und in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen.
Corona hat gelehrt: Das Wissen über das Anfang 2020 noch vollkommen unbekannte Virus entwickelt sich durch Erfahrung und neue Erkenntnisse ständig weiter. Durch den Sommer mögen neben mehr oder weniger strenge Kontakt- und Veranstaltungsbeschränkungen, mehr oder weniger gut eingehaltene Hygieneregeln und auch frische Luft und Sonnenlicht gegen das Virus geholfen haben.
Neben vorsichtiger Hoffnung auf einen Impfstoff sind jetzt aber angesichts der wieder steigenden Zahl von Neuinfektionen fast überall in Europa, dem nahenden Ende der Ferienzeit und der im Herbst und Winter bevorstehenden niedrigeren Temperaturen neue Strategien gefragt, die auch in Innenräumen funktionieren, Veranstaltungen wieder möglich machen und nicht zuletzt wieder mehr für die Existenz und die Gefahr des Coronavirus im Alltag sensibilisieren können.
Wie viel Sicherheit bringen neue Tests?
„Testen, testen, testen“ lautet neben „Masken tragen“ und „Abstand halten“ eine der wichtigsten Säulen des virologischen Coronaschutz-Triples. Aber wie Maske nicht gleich Maske ist – und auch Abstand unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen wird –, ist die Bandbreite auch bei den Untersuchungen mit Laborchemie inzwischen groß: Sie reicht bisher von zeit-, kosten- und personalaufwendigen Tests auf Virenmaterial aus Rachenabstrichen bis zu Bluttests auf Antikörper nach schon durchgemachter Infektion. Nun kommen Schnelltests hinzu, die weniger verlässlich sind, in Deutschland kaum gefördert werden und auch noch nicht zugelassen sind.
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„Länder wie Großbritannien und die USA haben die Entwicklung von Schnelltests gefördert und deren beschleunigte Zulassung aktiv betrieben“, sagt Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD-Fraktion im Bundestag, dem Tagesspiegel. Deutsche Politik und Behörden sollten ihre ablehnende oder gar ignorante Haltung aufgeben und diese Methoden in die Teststrategie einbinden.
Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut, sagt: „Was wir brauchen, sind Antigen-Selbsttests, die einen Euro kosten und zu Hause wie ein Schwangerschaftstest funktionieren.“ Sie könnten schnell in großen Mengen verfügbar sein; viele Unternehmen arbeiteten daran. Für Veranstaltungen etwa könne dann ein Ticket zusammen mit einem Testkit erworben und per QR-Code individualisiert werden, kann sich Schmidt- Chanasit „gut vorstellen“. Zugelassen sei außer von China und wenigen anderen Ländern allerdings noch keiner dieser Tests.
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Darauf dringt Lauterbach: Er versuche, „im Hintergrund“ Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) von einer neuen Teststrategie zu überzeugen und die Zulassung der neueren und schnelleren Verfahren zu ermöglichen, sagt der SPD-Politiker. Zwar seien diese neuen Tests „nicht ganz so genau, das wird aber durch ihre Schnelligkeit und hohe Verfügbarkeit mehr als aufgewogen“. Denn Schnelligkeit sei, wenn man der zweiten Welle Herr werden wolle, wichtiger als höchstmögliche Genauigkeit. Bei PCR-Tests, die seit der Frühphase der Pandemie eingesetzt werden, werden mit einer „Polymerase-Kettenreaktion“ (PCR) auch winzigste Erbgutmengen des Virus mit Hilfe eines Enzyms bei wechselnden Temperaturen vermehrt und dann nachgewiesen.
Es gibt einige einigermaßen praxisreife Verfahren für Schnelltests – meist sogenannte Antigen-Tests, die etwa auf spezielle Proteine des Virus reagieren. Im Gegensatz zu den PCR-Tests benötigen sie mehr Virenmaterial für einen Nachweis – das bedeutet, dass in der Frühphase der Infektion ein Test möglicherweise negativ ausfallen kann, obwohl schon Viren im Rachenraum sind, die der PCR-Test relativ sicher bereits gefunden hätte. Schmidt-Chanasit meint aber, das könne in der Praxis sogar hilfreich sein – denn die empfindlicheren PCR-Tests wiesen auch Virusmengen nach, die zu gering seien, um überhaupt eine Infektionsgefahr für andere zu bedeuten.
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Das Bundesgesundheitsministerium und das RKI favorisieren bisher diese genauen PCR-Tests, die aber nur Fachlabore durchführen können, die mindestens 60 Euro pro Stück kosten und bei denen man länger auf ein Ergebnis warten muss. Zwischen der Identifikation eines möglicherweise Infizierten durch Symptome oder Kontaktketten bis zur Mitteilung des Testergebnisses geht dabei wertvolle Zeit verloren – in der Infizierte schon nicht mehr infektiös sein könnten, wenn sie von ihrer eigenen Infektion erfahren.
Sogenannte Lamp-Tests (loop-mediated isothermal amplification) ähneln den PCR-Tests, sind aber einfacher durchzuführen. Sie sind etwas weniger verlässlich und nicht massenhaft einsetzbar. So bleiben sie wohl allenfalls ein Nischenprodukt, meint Schmidt-Chanasit - auch, weil es längst auch schnelle und flexibel einsetzbare PCR-Kartuschen-Tests gebe. Zudem sei nach wie vor geschultes Laborpersonal nötig.
Aber in einem DRK-Zelt an der Autobahn, am Flughafen oder auf einem Veranstaltungsgelände könnten die Getesteten bei einer Bearbeitungszeit von 70 Minuten auf ihr Ergebnis warten – viel Bürokratie wäre so zu vermeiden. Die Materialien – ein Reagenzglas mit Chemikalien, eine Pipette, eine Kochplatte und Wasser – kosten wenig. Damit wären die Tests auch ohne Hightech-Ausrüstung in abgelegenen Gebieten und Flüchtlingslagern einsetzbar, sagte Vicent Pelechano, Genomik-Experte am Karolinska-Institut in Stockholm, der einen LAMP-Test für SARS-CoV-2 mitentwickelt hat, dem Wissenschaftsmagazin „Nature“.
Muss denn jeder getestet werden?
Der Charité-Virologe Christian Drosten schlägt vor, die Nachverfolgung positiver Ergebnisse auf Quellcluster zu fokussieren. Das RKI sieht die Nachverfolgung jeder einzelnen Sars-CoV-2-Infektion vor. Doch nicht jeder Infizierte steckt viele weitere Personen an. Für das exponentielle Wachstum der Fallzahlen sind Cluster-Infektionen entscheidend, bei denen eine infizierte Person als Superspreader mehrere weitere ansteckt und neue Infektionsketten in Gang setzen kann.
Drosten will nach Japans Vorbild solche Cluster definieren: Kontaktpersonen eines Infizierten – etwa im Großraumbüro, bei der Familienfeier oder im Klassenzimmer – sollten unabhängig von Testergebnissen sofort für eine fünftägige Abklingzeit der Ansteckungsgefahr zuhause isoliert werden.
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Rechtlich wäre das möglich, da Amtsärztinnen und -ärzte ihren Schutzpflichten für Leben und Gesundheit nachkämen. Eine offizielle, gerichtlich bindende Vorgabe dafür gibt es jedoch weiterhin nicht. Am praktischen Vorgehen würde sich „erst einmal überhaupt nichts ändern“, hat Patrick Larscheid, Amtsarzt des Gesundheitsamtes Reinickendorf, dem Tagesspiegel gesagt. Erst einmal müsse wie gehabt jeder einzelne Fall nachverfolgt werden, um mögliche Cluster überhaupt zu erkennen: „In der Theorie ist es sehr einfach, Superspreader zu identifizieren. In der Praxis nicht.“
Was bringt frische Luft und wie lüftet man am besten?
„Lüften, lüften, lüften“ ist aktuell die pragmatische Losung für Großraumbüros, Sport-, Geschäfts- und Veranstaltungsräume sowie Klassenzimmer. „Lüften bringt mehr als Maske tragen“, sagte Lauterbach im ZDF bei „Markus Lanz“. Infektiöse ausgeatmete Aerosole in der Raumluft müssen möglichst schnell mit frischer Luft vermischt werden. Nicht überall sind die Voraussetzungen dafür gegeben: Gerade in Kitas, Schulen und hohen Gebäuden können Fenster oft nicht ganz geöffnet werden – was für einen vollständigen Luftaustausch aber notwendig ist, wenn keine Klimaanlage vorhanden ist, die das professionell erledigt.
Lauterbach ruft dazu auf, bis zum Winter auch Umbauten in Erwägung zu ziehen und zu fördern. Auch Drosten hatte in einem Gastbeitrag für die "Zeit" aufgerufen: "Welche technischen und pragmatischen Lösungen gibt es für einen hinreichenden Luftaustausch – in einem Land der Ingenieure, nicht der Bedenkenträger?"
Wichtig ist: Die Luft darf nicht nur innerhalb des Raumes bewegt und verquirlt werden, das reduziert die Zahl möglicherweise infektiöser Aerosole in der ausgeatmeten Raumluft nicht schnell genug. Von Umluftsystemen, die Abluft wieder beimengen, wird deshalb abgeraten. Mit Hochdruck werden momentan Filtertechniken entwickelt.
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Aber auch ohne Klimatechnik muss möglichst viel frische Luft in den Raum kommen – und auf einem anderen Weg verbrauchte Luft wieder nach draußen. So kann es sinnvoll sein, mit einem Ventilator Luft aus dem Fenster zu blasen – und durch eine offene Tür in einem anderen Teil des Raums frische Luft hereinzulassen.
Fenster dauerhaft gekippt zu halten, reiche nicht aus, sagen Experten der „Kommission Innenraumlufthygiene“ des Umweltbundesamtes. Sie empfehlen, in Räumen mit mehreren Menschen nach jedem Niesen oder Husten sofort stoßzulüften.
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In Schulräumen müsse spätestens nach 45 Minuten „intensiv bei weit geöffneten Fenstern“ Frischluft eingelassen werden. Wo Sport getrieben werde, empfiehlt die Kommission intensive Lüftungen fünfmal pro Stunde oder öfter – auch während größerer Familienbesuche in Wohnungen sollte durchgehend gelüftet werden.
Als pragmatische Messhilfe empfehlen sie „CO2- Ampeln“. Die erprobten und günstig erhältlichen Geräte zeigen zwar nicht die Konzentration virushaltiger Luftpartikel an, melden aber in Grün, Gelb und Rot, wie dringend gelüftet werden muss, indem sie die CO2-Konzentration messen – höchstens 1000 ppm (Teile pro eine Million Teile) bedeuten „hygienisch ausreichenden Luftwechsel“.