Neues Handbuch von Wolfgang Benz: Antisemitismus und was aus ihm wurde
Kritik an israelischer Politik, Streit ums Jüdische Museum: Ein Berliner Sammelband bietet Orientierung zum "Streitfall Antisemitismus".
Die offizielle deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen massenmörderischen Geschichte gilt – oft idealisiert – international als beispielhaft. Aus der Schuld am und der Aufarbeitung des Völkermords an den europäischen Juden speist sich sogar ein wesentlicher Teil bundesrepublikanischen Selbstverständnisses.
Umso bemerkenswerter, dass, wer sich durch die veröffentlichte Meinung arbeitet, den Eindruck bekommen kann, dass gerade hierzulande die Dinge immer schlechter laufen, dass Antisemitismus allen jahrzehntelangen Anstrengungen zum Trotz wächst statt abnimmt. Selbst das Jüdische Museum in Berlin wurde Mittelpunkt eines aberwitzigen Antisemitismusstreits.
Noch kurioser, dass dieser Eindruck in deutlichem Gegensatz zu belastbarer Erkenntnis steht, die Fachwissenschaft auch in Deutschland sammelt: Demnach sind Hass und antijüdische Vorurteile zwar auch im Land der NS-Verbrechen und Jahrzehnte nach 1945 nicht verschwunden und auf einem Niveau, das man bedauern muss. Für einen kontinuierlichen Anstieg gibt es aber keine verlässliche Datenbasis.
Was also ist der Grund für diesen Abstand zwischen gefestigtem Eindruck und ziemlich unsicheren Daten? Und warum tobt um Antisemitismus 75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus ein Konflikt, als seien die Nazis gerade erst besiegt? Antworten darauf gibt ein Sammelband, der in diesen Tagen erscheint.
Herausgegeben hat ihn der Historiker Wolfgang Benz, von 1990 bis 2011 Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin und Doyen der Fachrichtung in der Bundesrepublik.
Wolfgang Benz' biblischer Zorn über Faktenresistenz
Gerade seinen Beiträgen zum Buch ist ein fast biblischer Zorn über die Faktenresistenz der außerwissenschaftlichen Debatte um Antisemitismus anzumerken, der allerdings den aufklärerischen Wert seiner wie der Texte der übrigen 15 Autorinnen und Autoren in keiner Weise mindert. Wann ist Kritik an israelischer Politik antisemitisch? Ist es legitim, Judenhass und den auf Muslime zu vergleichen oder relativiert das den Holocaust?
Wer im oft heißlaufenden und emotionalisierten Streit ratlos geworden ist und aus Ratlosigkeit womöglich stumm, bekommt in „Streitfall Antisemitismus“ ebenso überzeugende wie spannende Antworten, neue Einsichten, Anregungen und womöglich – hoffentlich – wieder Grund, mitzudiskutieren.
[Wolfgang Benz (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Metropol Verlag, Berlin 2020. 328 Seiten, 24 Euro.]
Dass dies nötig bleibt, betont Benz vor dem Hintergrund neuerer Vorurteile, vornehmlich gegen Muslime: „Eine Chance wäre vertan, wenn die Einsichten, die die Beschäftigung mit dem ältesten und folgenreichsten Vorurteil der Welt, dem gegen die Juden, vermittelt, nicht genutzt würden, um gesellschaftliche Probleme zu erkennen, denn sie können womöglich bei der Lösung Hilfen geben.“
Zunächst freilich geht es im Band um Antisemitismus selbst. Den Wandel des Begriffs nach 1945 hin zu einer „Israelisierung“ von Antisemitismus zeichnet Daniel Cil Brecher nach, ebenfalls Historiker und früher Direktor des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem. Seit den 1960er Jahren habe sich Israels Presse- und Informationspolitik darum bemüht, „Kritik an israelischer Politik in der westlichen Öffentlichkeit mit dem Makel des Antisemitismus zu behaften“ – damals aus großer Angst heraus: Israel habe solche Kritik, „auch von jüdischer Seite“, als existenzielles Problem gesehen „und bekämpfte sie mit einem der wirkungsvollsten Mittel, die dem jüdischen Staat zur Verfügung standen – dem Antisemitismusvorwurf“.
Der Fall des Jüdischen Museums
Zuerst in den USA angewandt, traf diese Strategie in Deutschland auf ein neues deutsches Narrativ des Jüdischen, mit dem es sich ideal – und fatal – ergänzte: Einem Philosemitismus, der in den Gründerinnen und Gründern des jüdischen Staats die kraftvollen Gegenbilder der NS-Hassobjekte konstruierte. Brecher spricht von „gemeinsamer Identitätskonstruktion“ der beiden jungen Staaten, Israels und der Bundesrepublik. Gleichzeitig habe die philosemitische Idealisierung von Jüdinnen und Juden das „Othering“ des Antisemitismus fortgesetzt: „Juden sind anders, Juden sind nicht ‚wir’.“
Wer sich die Auseinandersetzung um das Jüdische Museum in Berlin in den beiden vergangenen Jahren ansieht, wird feststellen: Die Israelisierung des Antisemitismus, die Daniel Cil Brecher konstatiert, war erfolgreich. Der frühere „taz“-Journalist und Buchautor Daniel Bax zeichnet den Konflikt nach, der Direktor Peter Schäfer, einen international renommierten Judaisten, schließlich das Amt kostete und in dem sich auch die inzwischen ausgeschiedene Leiterin der Akademieprogramme des Museums, Yasemin Shooman, Rufmordversuchen erwehren musste, sie gebe Israelfeinden ein Podium.
Den Anlass bot die unter Schäfer konzipierte Ausstellung „Welcome to Jerusalem“, ein Publikumserfolg und von der „Süddeutschen Zeitung“ bis zur „Jüdischen Allgemeinen“ hochgelobt – bis Israels Premier Benjamin Netanjahu sie, ein Jahr nach der Eröffnung, als einseitig kritisierte und offiziell von Kanzlerin Merkel verlangte, dem Museum die Unterstützung zu entziehen. In der Folge engagierten sich dann schließlich auch einige positive Stimmen plötzlich auf der anderen Seite. Und am Ende dessen, was Bax eine Kampagne nennt, stand der Führungswechsel im Museum.
Unterbelichtet blieb das allgemeine Phänomen des Rassismus
Noch einmal geht es in „Streitfall Antisemitismus“ um die historischen Webfehler der vielgerühmten deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ und wieder haben zwei israelische Deutschlandkenner den scharfen Blick dafür, der frühere israelische Botschafter in Berlin, Shimon Stein, und Moshe Zimmermann, emeritierter Professor für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Ihr gemeinsamer Beitrag nimmt sich die Bundestagsdebatte über Antisemitismus im Januar 2018 vor, der sie zugestehen, dass sie „viel Empathie für die Juden und eine Bereitschaft zum Einsatz gegen den Antisemitismus zum Vorschein gebracht“ habe.
[Antisemitismus ist ein wiederkehrendes Element der "Verschwörungstheorien" zur Covid-19-Pandemie - wovor auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnt]
Zugleich aber habe sich das Parlament für die Berufung eines Antisemitismusbeauftragten entschieden und damit dafür, „das jüdische Thema wie gewohnt abgesondert zu behandeln“. Erneut sei die jüdisch-christliche Tradition heraufbeschworen worden, „auch von der Vertreterin der AfD, als wäre das Christentum nie eine Quelle des Antisemitismus gewesen“.
Thematisiert wird auch der Streit um Achille Mbembe
Das Fazit von Stein und Zimmermann: „Das allgemeine Phänomen Rassismus – der wahre ,Elefant im Raum’ – blieb unterbelichtet.“ Eine Leerstelle, die antirassistische Forschung und Aktivismus schon lange verantwortlich machen dafür, dass deutsche Vergangenheitspolitik nie wirklich die Lehre aus dem Rassenwahn der NS-Zeit gezogen hat, wie sich an der langen Verleugnung der rassistischen Motive der NSU-Mordserie besonders krass zeigte.
[Lesen Sie auch den jüngsten Beitrag des Autorenduos Shimon Stein und Moshe Zimmermann im Tagesspiegel: Deutschland muss endlich den Mund aufmachen]
„Streitfall Antisemitismus“ ist nicht nur ein geglücktes Handbuch zum unmittelbaren Thema, das er bis in die letzten Wochen nachzeichnet. Auch der Streit um den postkolonialen Denker Achille Mbembe ist aufgenommen, dem ebenfalls Antisemitismus zum Vorwurf gemacht wird. Dabei muss man nicht mit jedem Statement übereinstimmen, etwa, wenn Benz erklärt, israelbezogener Antisemitismus sei nur ein „Nebenschauplatz der Judenfeindschaft". Der Band bringt sein Publikum auch zum Nachdenken – falls nicht längst geschehen – über die politische Funktion der Stigmatisierung von Minderheiten im allgemeinen, indem sie sich, noch einmal Wolfgang Benz, das „älteste und folgenreichste“ vornimmt, das antijüdische.
Stereotype dienten „der Selbstvergewisserung der Mehrheit und der Fortdauer des prekären sozialen Status der jeweiligen Minorität“, das „darin gestaute Konfliktpotenzial ist erheblich und bedeutet für das Zusammenleben der Menschen in einer komplexen Gesellschaft eine latente Bedrohung“.
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