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Das öffentliche und das private Gedenken unterscheiden sich stark, sagt Samuel Salzborn.
© REUTERS

Antisemitismus und Erinnerungskultur: Die größte Lüge der Bundesrepublik

Die deutsche Erinnerungspolitik hält sich für vorbildlich. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn erklärt die gelungene Aufarbeitung der NS-Verbrechen zum Mythos.

Die Überzeugung, erinnerungspolitischer Weltmeister zu sein, ist ein zentrales Motiv der gegenwartsdeutschen Selbsterzählung. Zuweilen scheint es, als sei die einstige Wahnvorstellung rassischer Überlegenheit dem Glauben an eine moralische Überlegenheit gewichen. Die vermeintlich vorbildliche Vergangenheitsbewältigung legen sich Teile der deutschen Gesellschaft als Zeugnis kultureller Fortschrittlichkeit aus. 

Wie zuletzt der Essayist Max Czollek gezeigt hat, ist es dabei zur gängigen Praxis geworden, sich auf der vielbespielten Bühne des Erinnerungstheaters am Ritus kollektiver Läuterung zu laben.

Dass es mit dem Mythos einer schonungslosen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen nicht so weit her ist, wie es die einschlägigen Debatten nahelegen, unterstreicht der Berliner Politikwissenschaftler Samuel Salzborn nun mit seinem neuen Werk „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“. 

Öffentliche vs. private Erinnerung

In einem pointierten Essay bündelt Salzborn zentrale Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen und historischen Antisemitismusforschung. Ausgangsthese des Werks ist, dass sich der erinnerungspolitische Diskurs der Deutschen (und der Österreicher) durch eine einschneidende Kluft definiert: Hier das Gedenken im öffentlichen Raum, dort die Leugnung im Privaten.

Das Narrativ einer tatsächlichen Aufarbeitung des Holocaust sei nicht weniger als „die größte Lüge der Bundesrepublik“. Salzborn zufolge glaubt eine kleine, linksliberale Elite, ihr intellektueller Erinnerungsdiskurs durchdringe die Gesellschaft im Ganzen.

Offizielles Erinnern. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legt bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz einen Kranz an der Todeswand nieder.
Offizielles Erinnern. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legt bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz einen Kranz an der Todeswand nieder.
© dpa

Tatsächlich aber bestimmten Schuldabwehr und oftmals latenter Antisemitismus den psychischen Haushalt des Tätervolks. Die Metastasen von verdrängter Schuld und verdrängtem Antisemitismus manifestieren sich in einer unversöhnlichen „Israelkritik“, die durch die aus der Antisemitismusforschung bekannten drei D’s – Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards – geprägt ist.

Verkappte Antisemiten aller politischen Richtungen und gesellschaftlichen Milieus könnten ihr verschwiemeltes Ressentiment so ins schmückende Gewand der Solidarität mit den Palästinensern kleiden.

Die Schuld der Vorfahren wird verdrängt

Das große Problem ist Salzborn zufolge, dass man in Deutschland zwar gemeinhin die Verbrechen der Nazis anerkennt, die eigenen Verwandten und die „gewöhnlichen Deutschen“ jedoch oftmals amnestiert werden. Diese Unschuldsvermutung aber offenbare sich aufgrund „der antisemitischen Täterschaft in so gut wie allen Familiengeschichten der Bundesrepublik“ bei näherer Betrachtung als Lügengespinst. 

So hat die Geschichtswissenschaft die tiefe Verstrickung weitester Teile der deutschen Gesellschaft in den Komplex der Enteignung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden schon lange umfänglich belegt.

Das Verdrängen familiärer Schuldhaftigkeit macht Salzborn dabei an diversen sozialwissenschaftlichen Studien aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit fest. Schon 2002 zeigte die familienbiografische Studie „Opa war kein Nazi“ von Harald Walzer, Sabine Müller und Karoline Tschungnall wie zahlreiche Deutsche ihre Tätervorfahren in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren.

Selbstviktimisierung

Den gängigen Schätzungen zufolge liegt der Anteil derjenigen, die potenziellen NS-Opfern geholfen haben bei 0,3 Prozent, was etwa 200 000 Menschen entspricht. Die Memo-Studie 2019 des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft zeigt jedoch, dass etwa 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita andichten. 69,8 Prozent glauben, ihre Vorfahren seien nicht unter den Tätern gewesen. Und 35,9 Prozent erklären ihre Angehörigen gar zu Opfern.

Die Erinnerung wachhalten. Überlebende der Tötungsstätte Auschwitz-Birkenau am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee.
Die Erinnerung wachhalten. Überlebende der Tötungsstätte Auschwitz-Birkenau am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee.
© AFP

Der psychische Abwehrmechanismus der „Selbstviktimisierung“, den Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 in ihrem bahnbrechenden Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ sezierten, setzte Salzborn zufolge in beiden deutschen Teilstaaten unmittelbar nach ihrer Gründung ein. 

In den oft jeden historischen Kontext verleugnenden Debatten um deutsche Flüchtlinge oder Bombenopfer in Dresden und in Filmen wie „Die Gustloff“ und „Der Untergang“ sieht Salzborn den Opfermythos nach wie vor am Werk. Dass etwa die späteren Flüchtlinge an der völkischen Germanisierungspolitik einen gehörigen Anteil hatten, und demnach nicht von ungefähr vertrieben wurden, werde häufig verleugnet. Die Shoah erscheine dabei im postmodernen Nebel einer allgemeinen Gewaltkritik als eine Katastrophe unter vielen.

Täter-Opfer-Umkehr

Juden wiederum wird vorgeworfen, den Finger konstant in die Wunde zu legen. Anstatt sich mit den konkreten Taten der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zu befassen, werden die Opfer und ihre Nachfahren dafür gescholten, die Schuld-Erinnerung wachzuhalten. 

Nach einer Studie der Anti-Defamation League von 2019 waren 42 Prozent der Deutschen der Meinung, Juden würden zu viel über den Holocaust sprechen. Solche Zahlen und die darin anklingenden Schlussstrichforderungen, zeigen wie wichtig dieses Sprechen doch ist. Folgt man Salborns Analyse, sind die revisionistischen Forderungen vieler AfD-Politiker und anderer Neo-Faschisten schließlich im Schoß einer Gesellschaft gewachsen, die sich ihre kollektive Unschuld erschwindelt.

Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich und Hentrich Verlag Berlin 2020, 136 Seiten, 15 Euro.

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