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Der führende Theoretiker des Post-Kolonialismus, Achille Mbembe, geriet plötzlich in Deutschland ins Kreuzfeuer.
© Matthias Balk/dpa

Rassismus versus Antisemitismus: Debatte um den Intellektuellen Achille Mbembe verläuft nach Drehbuch

Zwei politische Ideologien treffen aufeinander und alle Beteiligten arbeiten mit der Rhetorik des Verdachts. Daher dreht sich alles im Kreis. Ein Gastbeitrag.

Natan Sznaider ist Professor für Soziologie am Academic College of Tel Aviv-Yaffo – School of Behavioral Sciences. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur wanderte er nach Israel aus.

Es war der 7. November 1917 in München. Der Soziologe Max Weber sprach vor jungen Studierenden über wissenschaftliche Aufrichtigkeit. „Wissenschaft als Beruf“ ist inzwischen zum Klassiker geworden.

Weber versuchte, seinen Zuhörern den Unterschied zwischen praktisch-politischen Stellungnahmen und wissenschaftlicher Analyse politischer Gebilde nahezubringen.

Worte können, so Weber, Pflugscharen zur Lockerung des Erdreichs des kontemplativen Denkens sein, oder auch Schwerter gegen die Gegner: Kampfmittel.

Die politische Atmosphäre in Deutschland war aufgeheizt und machte auch nicht vor den Universitäten halt.

Die feuilletonistischen Gemüter erhitzen sich

Mehr als 100 Jahre später, just in dem Moment in dem das Corona-Virus etwas in den Hintergrund rückte, erhitzten sich die feuilletonistischen Gemüter um Achille Mbembe, einen der wichtigsten wissenschaftlichen Vertreter der post-kolonialistischen Theorie.

Diese ist eine bewusst partikulare Theorie, die die kulturellen Einflüsse kolonialistischer Strukturen auf die Menschen ehemaliger Kolonien untersuchen will.

Diese Theorien sind nicht nur Pflugscharen, die verstehen wollen, sondern verstehen sich ganz bewusst als Schwerter im Kampf von Minderheiten gegen Mehrheiten.

Die Veranstalter wollten wohl eine Wunde öffnen

Der aus Kamerun stammende und in Südafrika lehrende Achille Mbembe wurde bewusst als Vertreter dieser Theorie nach Deutschland eingeladen, um die Ruhrtriennale zu eröffnen. Dafür ist Mbembe nicht verantwortlich, sondern die Veranstalter, die wohlwissend wohl eine jüdische Wunde in Deutschland öffnen wollten. Die Veranstaltung wurde zwar wegen des Virus abgesagt – der Skandal aber nicht.

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Dem in Deutschland mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Mbembe wurde vorgeworfen, ein Problem mit Israel zu haben, den Boykott gegen Israel zu unterstützen, Israel mit dem Regime der Apartheid in Südafrika zu vergleichen, ja sogar in diesem Zusammenhang den Holocaust zu relativieren.

„Israel ist der größte moralische Skandal unserer Zeit“ schrieb er 2014 in einem Vorwort zu einem Buch, das die südafrikanische Politik der Rassentrennung mit der israelischen Besatzungspolitik verglich. Damit kann man einverstanden sein oder auch nicht. Es ist eine politische Meinung, die von vielen geteilt wird.

Die Worte wurden als Schwerter gezückt

Diese Aussage konnte nicht unbeantwortet bleiben. Achille Mbembe sei Antisemit und soll daher in Deutschland keine öffentliche Bühne bekommen, war der Tenor der Gegner Mbembes. Und auch diese Aussagen durften nicht unbeantwortet bleiben.

Die Worte als Schwerter und Kampfmittel gezückt, die Reihen nach politischer Einstellung geschlossen.

Darf man Israel kritisieren? Darf man einen schwarzen Intellektuellen kritisieren, ohne als Rassist beschimpft zu werden? Und darf man einen schwarzen Intellektuellen vorführen, um die eigenen Befindlichkeiten zu betonen?

Wir drehen uns natürlich im Kreis des Gesagten und des nicht Gemeinten. Es reicht daher nicht, wenn Mbembe von sich behauptet, kein Antisemit zu sein. Die eine Seite glaubt ihm nicht, der anderen Seite reicht es.

Es geht gar nicht um den Begriff Antisemitismus

Es geht in der Tat nicht um den Begriff Antisemitismus, sondern um dessen Erlebnis. Deshalb argwöhnt eine Seite der Debatte, der Antisemitismusvorwurf diene nur dem Interesse Israels, legitime Kritik zum Schweigen zu bringen. Man zirkelt sich ein und besetzt die Positionen.

Wenn man das Schwert des „Kolonialismus“ zückt und so damit die israelische Wirklichkeit beschreibt, dann sind Israelis „weiße“ Siedler und die arabische Bevölkerung von den Kolonialisten ausgebeutete Menschen, deren Ausbeutung und Ausgrenzung auf Rasse beruht.

Ob das eine empirische Beschreibung ist, sei dahingestellt. Es sind wohl eher interessensgeleitete politische und keine wissenschaftlichen Debatten. Mbembe als Post-Kolonialist ist dieser Beschreibung verpflichtet.

Ist er deswegen Antisemit? Kann man ihm Antisemitismus nachweisen, wenn man seine Schriften danach durchleuchtet?

Die Beschreibung von Israels Besatzung als Kolonialismus ist eine Beschreibung der Wirklichkeit

Achille Mbembe will die „Die Welt Reparieren“, wie sein Beitrag aus der "Zeit" vom 23.4. heißt. Dort argumentiert er, dass er gegen jede Form von Kolonialismus sei. Das sei auch der Grund, warum er die israelische Besatzungspolitik nicht unterstützt.

Natürlich ist die Beschreibung der israelischen Besatzung als Kolonialismus eine der konkurrierenden Beschreibungen der Wirklichkeit im Nahen Osten. Es ist nicht die Einzige. Des Weiteren beruft er sich auf Israelis, die so denken wie er, und am Ende und distanziert er sich sogar vom Boykott gegen Israel.

Nicht wohl zufällig nennt er seinen Beitrag „Die Welt Reparieren“, ein Begriff aus dem Judentum (Tikun Olam), der messianische Hoffnung gerade für Minderheiten ausdrückt.

Die Gegner Mbembes glauben ihm nicht, genauso wie seine Befürworter nicht glauben wollen, dass es bei den Kritikern um mehr geht als nur die Verteidigung Israels vor jeder Kritik.

Die zwei großen moralischen Narrative des 20. Jahrhunderts prallen aufeinander

Alle Beteiligten der Debatte arbeiten mit der Rhetorik des Verdachts. Das gehört zum Machtkampf der Ideen. Man selbst spricht die Wahrheit, der Gegner aber Ideologie.

Der Antisemitismusvorwurf gründet auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist. Aber auch Kolonialismus und Rassismus funktionieren so. Wie also entschlüsseln, wenn der „Antisemit“ oder die „Antisemitin“ von sich behaupten, keiner zu sein?

Es gibt zwei große moralische Narrative des 20. Jahrhunderts. Israel und die Juden befinden sich im Brennspiegel von beiden. Das eine ist der Holocaust und in historischer Konsequenz, dass Israel der Garant ihrer Sicherheit sei, eine Sicherheit, die in Europa vernichtet wurde. Hier dient die Gründung des Staates Israel in der Tat als Erlösung im wahrsten und tiefsten religiösen Sinne des Wortes.

Aber es gibt auch ein anderes moralisches Narrativ des 20. Jahrhunderts, wo der Holocaust keine zentrale Rolle spielt. Hier stehen die Grausamkeiten des Westens gegen die Welt, die außerhalb des Westens steht, im Vordergrund.

Apartheid als Kolonialsystem - darf es mit Israels Besatzungspolitik verglichen werden?
Apartheid als Kolonialsystem - darf es mit Israels Besatzungspolitik verglichen werden?
© imago images

Nicht Holocaust, sondern Kolonialismus sind in diesem Narrativ die semantischen Markierungen. In diesem Narrativ sind Israelis weiße Siedler, der Staat Israel eine Siedlergesellschaft, die die eingeborene nicht-weiße Bevölkerung unterwirft. Gerade im Nahostkonflikt überschneiden sich diese Narrative. Und das tragische ist natürlich, dass beide richtig sein können, ein Widerspruch der schwer auszuhalten ist.

Neue Disziplinen wie Postkoloniale Studien stehen in Konkurrenz zu Jüdischen Studien

Aber es gibt auch den wissenschaftlichen Arm dieser Politik: Die Geschichte von Holocaust und Antisemitismus drohte die relativ neue Disziplin der postkolonialistischen Studien im wahrsten Sinne zu überwältigen. Insbesondere im anglo-amerikanischen und französischen akademischen Raum, wo viele der Anhänger Mbembes geschult sind.

Das ist auch der Grund, warum neue Disziplinen wie Diaspora Studien, Postkoloniale Studien, Ethnische Studien sich häufig gegen und in Konkurrenz gegen Jüdischen Studien definieren, ja definieren müssen. Wie das Neue Testament muss der Ursprung verneint und bekämpft werden.

Für die Anhänger des kolonialen Narrativs hat die Erinnerung an den Holocaust – gerade in Deutschland – die Geschichte des Antisemitismus überbestimmt und daher würden Vergleiche mit Völkermord im kolonialen Kontext nicht zugelassen. Mbembe schrieb 1992 selbst genau darüber in seinem Essay, „Israel, die Juden und Wir“.

Dabei geht es weniger um die wissenschaftliche Legitimität des Vergleichs, es geht eher um Deckerinnerungen der Schuld und die Konkurrenz der Narrative.

Kritische Israelis sprechen von ihren eigenen Befindlichkeiten

Wenn sich also kritische Israelis und Juden durch ihren Aufruf in die Debatte einmischen, sprechen sie eher von ihren eigenen Empfindlichkeiten. Diese Kritik klingt auf Deutsch natürlich anders als auf Englisch.

Im deutschen Erinnerungsraum werden Boykottaufrufe gegen Israel (und damit Juden) anders konnotiert und müssen an Antisemitismus erinnern. Wenn der Rahmen Apartheid ist, dann klingt das Erlebnis des Boykotts anders.

Die Reaktionen waren abzusehen. Jeder handelte nach dem vorgegebenen Skript. Mbembe wurde als Antisemit, Israelhasser und Holocaustleugner aus der einen politischen Ecke beschimpft, währen die andere Ecke ihn als legitimen Kritiker des israelischen Kolonialismus auszeichnete.

Zionismus und Post-Kolonialismus sind sich ähnlicher als gedacht

Beide Seiten scheinen zu übersehen, dass es sich bei ihren Einstellungen nicht um emanzipatorischen Universalismus handelt. Denn sowohl der Post-Kolonialismus als auch der Zionismus sind sich ähnlicher als es scheint.

Beide entsprangen aus der Kritik des Universalismus und der Aufklärung. Beide zogen Konsequenzen aus dem Scheitern der Aufklärung, beide sind partikulare politische Ideologien, die sich universal geben müssen, um gehört zu werden. Beide sind Bewegungen, die sich gegen eine „weiße“ Mehrheit stemmten.

Auch der Zionismus war eine post-kolonialistische Bewegung, die Konsequenzen aus dem Scheitern der Aufklärung für die Juden in Europa zog. Aber es war vielleicht die politisch erfolgreichste politische post-kolonialistische Bewegung.

Post-Kolonialismus war die Antwort auf Rassismus

Der neu gegründete Staat Israel operierte mit einer ethnischen Definition seiner Nation und versuchte, ja musste es versuchen, aus der Pluralität jüdischer Diasporaexistenz eine nationale Einheit zu schaffen. Was per Definition heterogen war, nämlich jüdische Diasporaexistenz, sollte nun homogen werden.

Der Zionismus war die politische Antwort auf den Antisemitismus, so wie der Post-Kolonialismus eine Antwort auf den Rassismus war. Aber gleichzeitig begann die Minderheit Mehrheit zu werden. Und der emanzipatorische Traum konnte nur mit Gewalt gegen die Bevölkerung vor Ort durchgesetzt werden.

Und an diesem Punkt beginnt die Kritik an Israel als europäisch-ethnonationales und koloniales Projekt. Es ist in erster Linie Kritik an der Ausübung jüdischer politischer Souveränität. Auf beiden Seiten der Debatte geht es darum, partikulare Schuld zu universalisieren und mit einer wissenschaftliche Aura zu umhüllen.

Warum wird ein afrikanischer Intellektueller zum Brennpunkt deutscher Befindlichkeiten?

Die entscheidenden Fragen sind doch: Warum soll Achille Mbembe, einer der wichtigsten afrikanischen Intellektuellen, zum Brennpunkt der deutschen Befindlichkeiten im Hinblick auf Israel und den Antisemitismus dienen? Warum sind die Wunden des Holocaust und des Kolonialismus im Jahr 2020 auf deutschen Zeitungsseiten geöffnet worden?

Das kritische jüdische und israelische Milieu, das sich mit Mbembe solidarisiert, führt einen anderen Kampf. Dieses Milieu fordert die Absetzung des deutschen Antisemitismusbeauftragten. Das gehört nicht zu den Aufgaben kritischer Israelis.

Aber gleichzeitig sollten die Verteidiger Israels in Deutschland erkennen, dass ein souveräner Staat auch souverän mit der schärfsten Kritik gegen sich umgehen kann. Dazu gehört auch die postkoloniale Kritik. Die Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen wird gerade in der Antisemitismus-Diskussion noch auf sich warten lassen.

Natan Sznaider

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