zum Hauptinhalt
Das Jüdische Museum in Berlin.
© imago/Schöning

Streitfall Jüdisches Museum Berlin: Wer bestimmt, was jüdisch ist?

Die israelische Regierung zensiert kulturelle Einrichtungen. Deutsche Politiker wirken eingeschüchtert. Das ist eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Ein Gastbeitrag.

Zum Überlaufen kam das Fass auf eine zeitgemäße Art – per Twitter. Der Tweet einer Sprecherin des Jüdischen Museums Berlin, die auf einen Aufruf von jüdischen Wissenschaftlern gegen die Resolution „BDS entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ des Bundestags vom 17. Mai hinwies, reichte aus, um einen Shitstorm auszulösen: Kritik an einem Bundestagsbeschluss, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt – Antisemitismus und Palästinenser? Nicht bei uns!

„Das Maß ist voll“, so Zentralratspräsident Josef Schuster; „Es reicht endgültig!“, so der Israelfreund Volker Beck. Der Direktor des jüdischen Museums, Peter Schäfer, nahm seinen Hut. Den Rücktritt kündigte er nicht per Twitter an, sondern traditionell brieflich, adressiert an die Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Problem gelöst?

Worum geht es hier eigentlich? Ganz bestimmt nicht bloß um den Kopf des Direktors des Jüdischen Museums. Es geht zum einen um die Aufgabe eines Museums – eine Plattform für mehr als nur ein Narrativ anzubieten. Aber es geht um mehr: um prinzipielle Fragen, um die Streitkultur in Deutschland, um Meinungsfreiheit und nicht zuletzt um Deutungshoheit: Wer darf in Deutschland darüber bestimmen, was Judentum und Antisemitismus ist – und nicht zuletzt, was eigentlich „Israel-bezogener Antisemitismus“ ist?

Der sich seit einiger Zeit aufstauende Druck auf das Jüdische Museum Berlin wurde zum Tsunami: Die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ war für manche Kritiker nicht „palästinenserfrei“ genug. Kritik erntete der Museumsdirektor auch deswegen, weil er den iranischen Kulturrat empfing und durch die Ausstellung führte. Dann sorgte die Einladung eines angeblich dem BDS-nahestehende palästinensischen Friedensforschers zu einer vom Museum geplanten Veranstaltung (Thema: „Being Queer in Palestinian Jerusalem“) für Aufregung.

Angesichts des wachsenden Drucks machte das Museum gelegentlich seine Rückzieher, um Ruhe zu bekommen. Doch war das Ende abzusehen, spätestens als sich Benjamin Netanjahu höchstpersönlich bei Bundeskanzlerin Merkel beschwerte und die Einstellung der finanziellen Förderung des Jüdischen Museums Berlin verlangte, wegen „Anti-Israel-Aktivitäten“.

Aus offizieller israelischer Sicht zusammengefasst: Was Antisemitismus und was eigentlich jüdisch ist entscheiden „wir“, die israelische Regierung, unterstützt vom Zentralrat der Juden, der der offiziellen Stimme Israels hörig ist und sich mit einer selbständigen Haltung schwertut. Nicht nur der BDS (die palästinensische Boykott-Bewegung, bei der auch antisemitische Klänge zu hören sind), eigentlich jeder Boykott gegen israelische Interessen, auch gegen die Besatzungs- und Siedlungspolitik, gelten demnach als antisemitisch; und Juden, die einer anderen Meinung sind, sind eben keine richtigen Juden mehr.

Political Correctness führt zur Zensur

Das Phänomen – die Einmischung von politischen Interessen und Einrichtungen in Kulturangelegenheiten – ist uns in Israel wohl bekannt. In Israel ist Kulturministerin Miri Regev (deren Foto in der Berliner Jerusalem-Ausstellung in voller Größe mit einem Jerusalem-Kleid zu bewundern war) schon seit langem zur obersten Zensurinstanz geworden, um vom nationalen Konsens abweichende Personen und Institutionen zur Rechenschaft zu ziehen. Wie die Demokratie zur Ochlokratie (Herrschaft des Pöbels, die Red.) tendiert, die bereit ist, Meinungsfreiheit zu beschneiden, haben wir in Israel bereits erfahren. Nun passiert es in Deutschland. Das Jüdische Museum Berlin ist dabei kein Einzelfall.

Zahlreiche Kommunen und Städte verweigern die Vergabe von kommunalen Räumen an angebliche oder tatsächliche BDS-nahe Veranstaltungen als Akt der Abwehr des Antisemitismus. Bereits die Frage, ob der BDS pauschal als antisemitisch zu bewerten ist, gilt als unanständig, wobei diese in Deutschland marginale Bewegung nur dank der gegen sie gerichteten Kampagne ein so starkes Maß an Aufmerksamkeit gewinnen konnte.

Bei der Planung von Veranstaltungen wird in der Regel darauf geachtet, dass keine Israel-kritischen Personen mit auftreten. Das Bestreben, in Sachen Juden und Israel, PC (politically correct) zu sein, führt zur Zensur, die bereits im Vorfeld der Veranstaltungen ausgeübt wird. Sogar die finanzielle Unterstützung einer israelischen Einrichtung wie des „linken“ New Israel Fund wird abgelehnt, um nicht in den Verdacht zu geraten, man steht dem „Israel-bezogenen Antisemitismus“ nahe.

Und falls nicht ausreichend auf derartige Distanzierung geachtet wird, meldet sich überraschend die AfD zu Wort: Nur wir, und nicht die „Alt-Parteien“, bekämpfen den Antisemitismus und den Hass auf Israel. Und statt sich zu wundern über die Absurdität dieser AfD-Israel-Liebesbeziehung, lenken Politik und Medien meist ein, wie es auch im besagten Bundestagsbeschluss und im Fall des Jüdisches Museums geschah.

Der Mangel an Unterstützung für Schäfer war symptomatisch

Den Spruch „Wir als Deutsche können uns keine Kritik an Israel beziehungsweise an der israelischen Politik leisten“ kriegt man allzu oft zu hören. Groß ist die deutsche Angst, in Verdacht zu geraten, Antisemit genannt zu werden. Das ist vor dem historischen Hintergrund verständlich, aber die Reaktion fällt in Deutschland deswegen meist prophylaktisch-ängstlich aus, ohne eine durchdachte Antwort auf die Grundfragen zu haben: Was ist Antisemitismus, was sind seine Ursachen und Rahmenbedingungen? Die Bundeskanzlerin ist beunruhigt, weil jüdische Einrichtungen Polizeischutz brauchen, es entsteht der Eindruck, der Antisemitismus sei allgegenwärtig, und die politische Klasse sucht hektisch nach „Lösungen“. Man glaubt in Deutschland, Israel und der Zentralrat hätten den vermeintlichen Schüssel für den Kampf gegen Antisemitismus entdeckt: den Kampf gegen die BDS-Bewegung – und in diesem Zusammenhang auch gegen das Jüdische Museum Berlin. Bei diesem Thema beanspruchen Israel und der Zentralrat quasi das Vetorecht für sich. Die eingeschüchterten deutschen Politiker spielen mit. Der Mangel an Unterstützung für den gestürzten Museumsdirektor war symptomatisch.

Geteilte Erinnerung. Die Stelen im Garten des Exils im Jüdischen Museum Berlin erinnern an Vertriebene.
Geteilte Erinnerung. Die Stelen im Garten des Exils im Jüdischen Museum Berlin erinnern an Vertriebene.
© Jüdisches Museum

Seit der doppelten Staatsgründung Israels und der Bundesrepublik Deutschland 1948 und 1949 konvergieren reale, normale Staatsinteressen und Elemente der kollektiven Erinnerung auf instrumentalisierende, ja manipulative Art. Wahrscheinlich wäre es produktiver und ehrlicher, beide Elemente voneinander zu entkoppeln. Selbstverständlich ist die Gleichberechtigung der Juden wie auch die Abwehr des Antisemitismus eine wichtige Lehre aus der Zeit vor 1945.

Aber lenkt es nicht vom Ziel ab, wenn keine Differenzierung stattfindet, wenn sich der Kampf gegen Antisemitismus auf den BDS (praktisch stellvertretend für „die Palästinenser“) konzentriert und dabei der breitere Rahmen, der Kampf gegen Rechtsradikale und Rechtspopulisten, gegen Intoleranz und Rassismus außer Acht gelassen wird? Ist es nicht irreführend, wenn ein unscharf definierter „Israel-bezogener Antisemitismus“ in den Vordergrund gerückt wird? Bedeutet diese Art von Kampagne gegen diesen Antisemitismus nicht, dass die deutsche Politik einlenkt bei dem dubiösen Versuch der israelischen Politik, sich eine Garantie gegen Kritik an ihrer Siedlungspolitik zu sichern?

Was jüdisch ist, entscheidet nicht allein Israel

Ist, darüber hinaus, die Lehre aus der NS-Zeit, dass jeder israelbezogene Boykott falsch, ja antisemitisch sein muss? Der Boykott gegen jüdische Geschäfte vom 1. April 1933 bleibt bis heute das eindeutigste Beispiel für einen zu verurteilenden Boykott. Damals begann aber auch der Boykott von Juden und Nicht-Juden gegen Nazideutschland, ein Boykott, von dem man im Nachhinein wegen seiner begrenzten Wirkung nur frustriert sein kann.

Die meisten Boykottbewegungen liegen auf der Skala zwischen diesen beiden extremen Beispielen, und so müsste auch bei der Einstellung zum Boykott in Sachen Israel eine differenzierte Haltung eingenommen werden. Letztendlich begriff auch die EU, dass israelische Produkte aus den besetzten palästinensischen Gebieten anders zu behandeln sind als Produkte aus dem Kernland Israel.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Differenzierter muss auch mit dem Begriff „jüdisch“ umgegangen werden. Was jüdisch ist, entscheidet nicht allein Israel. Die Vielfalt im Judentum ist enorm. Das hat auch das Jüdische Museum Berlin zu vermitteln versucht. Die Kippa ist nicht das Symbol des Judentums; Reformjuden wie auch säkulare Juden sind – vom Standpunkt der Wissenschaft wie auch aufgrund der Selbstbestimmung von Personen, die sich zum Judentum bekennen – nicht weniger jüdisch als orthodoxe Juden oder jüdische Bürger des Staates Israels. Vielfalt und Bereitschaft zum Disput waren immer ein Kennzeichen des Judentums.

So sind Juden, die den Beschluss des Bundestags kritisieren, nicht weniger jüdisch als ihre Widersacher. Ihr Recht auf Meinungsfreiheit zu beschneiden, ihre Warnung zum Anlass zu nehmen, um den Schluss zu ziehen „Es reicht endgültig“ – das ist kein Beitrag zum Kampf gegen Antisemitismus, sondern eine Gefahr für die Meinungsfreiheit in Deutschland und nur ein Beispiel dafür, wie historische Traumata in eine Sackgasse führen können, statt einen Ausweg aus der Wiederholungsgefahr zu bieten.

Zur Startseite