TTIP-Debatte: Vom Chlorhuhn zum Schiedsgericht
Das Wochenende steht im Zeichen von "Stopp TTIP". Die Debatte über das Freihandelsabkommen hat sich jedoch stark gewandelt. Ein Überblick.
Die kommende Woche wird im Zeichen der Proteste gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP stehen. Während im Oktober die Vertreter der Europäischen Kommission und der USA in Miami zur elften Verhandlungsrunde zusammenkommen, machen in Europa zahlreiche Organisationen mobil gegen das Abkommen.
Am Mittwoch, 7. Oktober wird die Europäische Bürgerinitiative "Stop TTIP" in Brüssel eine Liste mit Unterschriften gegen das Abkommen übergeben, 2,9 Millionen waren es kurz vor dem Wochenende nach Angaben der Organisatoren. Am Samstag, 10. Oktober, werden Tausende zu einer Großdemonstration gegen TTIP in Berlin erwartet.
Dazu aufgerufen hat ein breites Bündnis, unter den Unterzeichnern sind der Deutsche Gewerkschaftsbund, Naturschutzorganisationen wie Greenpeace und der NABU, Attac, Campact, Brot für die Welt und viele weitere. Grüne und Linke unterstützen die Demonstration.
Der Tagesspiegel hat die Demonstration zum Anlass genommen, Befürworter und Gegner zu bitten, ihre Argumente noch einmal knapp darzulegen (alle Beiträge finden Sie hier). Das Ergebnis zeigt, dass sich die Argumente für oder gegen TTIP in den letzten Monaten stark gewandelt haben. Beide, Gegner und Befürworter, haben aus Fehlern ihrer Kampagnen gelernt.
Die Gegner stellten anfangs vor allem die Angst vor den inzwischen legendären "Chlorhühnern" in den Mittelpunkt - wobei selbst das Bundesamt für Risikobewertung nichts schlimmes am Einsatz von Chlor auf Schlachthöfen finden konnte, im Gegenteil. Die Befürworter wiederum priesen noch vor einem Jahr das erwartete Wirtschaftswachstum - wobei gleich zwei Organisationen, der BDI und die arbeitgebernahe Initiative Soziale Marktwirtschaft ihre Projektionen korrigieren mussten.
Mittlerweile sind beide Seiten vorsichtiger geworden, das zeigt auch die Tagesspiegel-Debatte. Im Fokus der Kritik steht mittlerweile der geplante Investorenschutz, also die Einrichtung von Schiedsgerichten, vor denen ausländische Investoren gegen Regierungen klagen können, die Entscheidungen getroffen haben, die ihre Investments gefährden. Die Befürworter wollen TTIP noch immer wegen der Chancen auf mehr Wirtschaftswachstum in Europa und den USA, allerdings ohne sich wie einst auf konkrete Zahlen festzulegen.
Grob lassen sich drei Fraktionen unterscheiden:
1. Die Ja-Fraktion
Zu ihr zählen die CDU, die Europäische Kommission und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Sie sehen TTIP vor allem als Chance, die eigenen Standards im globalen Handel durchzusetzen. „Dieser Vertrag ist eine Chance für uns Deutsche und Europäer, an den Regeln der Zukunft mitzuarbeiten. Die Gelegenheit ist günstig, unsere Wertvorstellungen und unsere Standards in die Gestaltung der Globalisierung einzubringen", schreibt BDI-Präsident Ulrich Grillo. Fast wortgleich argumentiert Joachim Pfeiffer, wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: "TTIP bietet uns die größte - möglicherweise auch die letzte - Chance, unseren hohen westlichen Standards weltweit Geltung zu verschaffen und ein neues Zeitalter der wirtschaftlichen Verflechtung über den Atlantik einzuläuten."
Der Diplomat Richard Kühnel, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, versichert außerdem, die Souveränität staatlicher Institutionen werde gewahrt: „Es ist ein weit verbreiteter Mythos, TTIP würde die EU-Regierungen zur Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen zwingen. Tatsache ist: in allen Handelsabkommen der EU behalten die Regierungen das Recht, Leistungen im öffentlichen Interesse – zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser und die Wasserversorgung – so zu erbringen, wie sie das für richtig halten. " Rekommunalisierung bleibe möglich. Niemand werde zu Privatisierungen gezwungen.
2. Die Ja-aber-Fraktion
Sie ist die wohl größte Fraktion. Organisationen wie der Verbrauchzentrale Bundesverband, aber auch die SPD lehnen das Abkommen nicht grundsätzlich ab, wollen aber, dass rote Linien gezogen werden. „Freihandel ist richtig und gut, aber kein Wert an sich", schreibt der SPD-Linke und stellvertretende Parteivorsitzende Ralf Stegner, der sich damit im Wesentlichen an die Seite von Sigmar Gabriel stellt (gegen radikalere Stimmen an der Parteibasis).
„Unsere Standards bei Arbeit, Sozialem, Kultur, Verbraucher- und Datenschutz, Ökologie und öffentlicher Daseinsvorsorge müssen ohne Wenn und Aber erhalten bleiben!“ Noch klarer spricht sich Dirk Wiese aus der SPD-Bundestagsfraktion für das Abkommen aus: "Globalisierung braucht Regeln, keine Denkverbote. (...) Wir wollen an der Gestaltung der Regeln aktiv mitwirken und unsere sozialdemokratischen Ideen und Konzepte einbringen."
Klaus Müller vom Verbraucherzentrale Bundesverband könnte mit TTIP leben - allerdings nur mit einer deutlich schlankeren Version. Um TTIP zu retten, müsse das Abkommen abgespeckt werden. Ein "TTIP light" ist aus unserer Sicht der einzige Weg, "um ein zu aufgeblähtes Regelwerk vor einer nicht zuletzt auch verbraucherfeindlichen Fettleibigkeit zu bewahren.“ Klaus Müller sieht, wie viele der TTIP-Gegner, vor allem die geplanten Schiedsgerichte kritisch, vor denen ausländische Investoren Regierungen verklagen könnten, wenn diese Maßnahmen beschließen, die ihre Investitionen gefährden könnten.
Auch Mattias Kumm, Forschungsprofessor am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, kritisiert die Gerichte in ihrer bisher geplanten Form scharf. „Der in der der Energiecharta schon festgeschriebene, in CETA vorgesehene und für TTIP zur Diskussion stehende ISDS Investorenschutz ist eine konstitutionell nicht zu rechtfertigende Fehlentwicklung und bedarf der Korrektur, nicht der weiteren Vertiefung", schreibt er und nennt zwei Bedingungen für einen Investorenschutz, der zulässig sein könnte: 1. Ausländische Investoren dürfen nicht das Recht erhalten, Richter zu benennen, die gegen Staaten urteilen können. 2. Der Investorenschutz darf nur eine nachgeordnete Funktion hinter nationalen rechtlichen und demokratischen Verfahren haben. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hat mittlerweile angekündigt, die Gerichte zumindest zu öffentlichen Gerichten machen zu wollen.
3. Die Nein-Fraktion
Aus Sicht des DGB, der Linken, der europäischen Grünen, Campact und des WWF ist TTIP aber auch durch eine Verschlankungskur kaum mehr zu retten. Die Nachteile überwiegen aus Sicht von DGB-Chef Reiner Hoffmann: „Wenn es nur um mehr Handel zwischen den USA und Europa ginge, wäre TTIP gar nicht notwendig", meint er, die Hoffnung auf eine Angleichung der Regulierungskultur der USA und der EU durch das Abkommen sei ohnehin vergeblich - und für den Arbeitnehmerschutz sei das Abkommen eine echte Gefahr.
Die Vizepräsidentin der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, Ska Keller, kritisiert vor allem die Schiedsgerichte, und zwar grundsätzlich: "Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausländische Investoren gegen demokratische Entscheidungen klagen können sollen.“ Ähnlich sieht es Alexander Ulrich, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linken im Bundestag.
Er nennt vier Punkte, die aus seiner Sicht demokratische Verfahren aushöhlen: Die Schiedsgerichtsverfahren, Sperrklauseln, die Liberalisierungsniveaus festschreiben könnten, eine Schwächung des europäischen Vorsorgeprinzips für die Marktzulassung von Lebensmitteln und Technik, Beschränkungen bei der Ausschreibung öffentlicher Aufträge, die dann nicht mehr zur regionalen Wirtschaftsförderungen verwendet werden könnten. Auch Alois Vedder vom WWF sorgt sich über die Folgen der Marktöffnung für Produkte mit nicht-europäischen Standards: "Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, dass billige Niedrigstandardprodukte die anderen vom Markt verdrängen werden. Der Wettbewerbsdruck nach unten - „race to the bottom“ – wird dann kaum aufzuhalten sein.“
Worin sich alle einig sind
Die Verhandlungen sollen offener geführt werden. Die Kommission habe durch ihre Geheimniskrämerei viel Vertrauen verspielt, sagt der selbst BDI-Präsident Ulrich Grillo: „Alles, was mit TTIP zu tun hat, muss transparenter werden. EU-Kommission und Bundeswirtschaftsministerium haben reagiert und bieten viele Informationen zu TTIP an.“
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