Welthandel - TTIP: Es geht um viel mehr als um Chlorhühnchen
Ich will auch kein Chlorhühnchen auf dem Teller, schreibt der Bereichsleiter Politik des WWF in Berlin. Aber es geht um viel mehr.
Ein Freihandelsabkommen kann eine große Chance sein. Wenn eine Angleichung an den jeweils höheren Standard vorgesehen ist, kann jede Seite von den zivilisatorischen, sozialen und umweltpolitischen Errungenschaften der jeweils anderen profitieren. Unter dieser Voraussetzung könnte an einem Freihandels-und Investitionsabkommen zwischen den zwei größten, demokratischen Wirtschaftsräumen unserer Erde nichts auszusetzen sein. Mit strengen Prinzipien und verbindlichen Verpflichtungen würde ein Abkommen vielleicht sogar zur Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit und zum Erhalt der biologischen Vielfalt in allen Ländern beitragen, die über den Welthandel mit den USA, Kanada und der EU verbunden sind.
Der WWF lehnt CETA und TTIP grundsätzlich ab
Doch davon sind sowohl das fertige CETA-Abkommen, also auch TTIP grundsätzlich weit entfernt. Und genau deshalb lehnt der WWF diese beiden Verträge genauso grundsätzlich ab. Mehr noch: Die Situation um die Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA bzw. Kanada stellt insgesamt eine Sondersituation dar, in der alle gefragt sind, sich auch über die üblichen Wege hinaus zu engagieren. Deshalb hat sich auch der WWF - sonst nicht als die vorderste Demoorganisation bekannt – entschlossen, sich als Mitausrichter dem Trägerkreis für die Großdemonstration am 10. Oktober in Berlin anzuschließen.
Keine Angst – jetzt kommt nicht der übliche Chlorhühnchen-Alarm. Auch wenn ich die, genau wie die meisten Menschen in Deutschland, nicht auf dem Teller haben will. Es steht Grundsätzlicheres zur Disposition. Es geht zum Beispiel darum, ob wir Konzernen erlauben wollen, wegen entgangener Gewinne Milliardensummen von Staaten einzuklagen – also zum Beispiel auch von Deutschland – nur weil diese Staaten demokratisch entschieden haben, Umweltgesetze zu verbessern. Diese Klagen sollen über private Schiedsgerichte laufen, weil die Konzerne ihre Ansprüche offensichtlich vor ordentlichen Gerichten nicht durchsetzen können. Dementsprechend sind in dem bereits ausgehandelten CETA-Abkommen sogenannte Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren (ISDS) enthalten - ähnliches ist bei TTIP geplant. Und auch wenn es inzwischen aufgrund der vehementen Proteststimmung gegen ISDS erste Bewegungen bei der EU-Kommission gibt, ist das Thema noch lange nicht vom Tisch und in den USA immer noch unstrittig.
Die geplanten Schiedsgerichte könnten Staaten davon abhalten, ihre Umweltgesetze zu verbessern
Des Weiteren geht es darum, dass es nach Abschluss des TTIP-Abkommens eine noch dazu extrem intransparente Regulierungsinstanz („Regulatorischer Kooperationsrat“) neben den demokratischen Institutionen geben soll, die vor dem Einbringen neuer Umweltgesetze gefragt werden muss. Anpassungen und Harmonisierungen sollen von dort initiiert werden und vom Europäischen Rat abgesegnet werden, ohne dass Parlamente mitentscheiden können.
Zudem gibt es Bestrebungen, jeweils die Standards der anderen Seite anzuerkennen und entsprechend Produkte unterschiedlicher Standards auf den Markt zu lassen. Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, dass billige Niedrigstandardprodukte die anderen vom Markt verdrängen werden. Der Wettbewerbsdruck nach unten - „race to the bottom“ – wird dann kaum aufzuhalten sein. So muss befürchtet werden, dass es bei der Beseitigung von Regulierungsunterschiede etwa im Bereich Chemikalien und Pestizide zur Demontage des Schutzes der Arbeitnehmergesundheit, der Verbrauchersicherheit sowie der Tier- und Pflanzenwelt kommt. Auch bestehende Fracking-Verbote oder -moratorien in Europa könnten aufgeweicht werden. Und selbst das in der EU-Umweltpolitik geltende Vorsorgeprinzip zur Abwendung von Umweltschäden, auch jenen die wissenschaftlich plausibel aber ungewiss sind, scheint in Gefahr. Wenn alleine diese Elemente in den Abkommen zum Tragen kommen, werden zahlreiche Beteuerungen, dass keine Umwelt-, Sozial- oder Verbraucherschutzfragen in Gefahr sind, zu reiner Makulatur. Denn sie können über diese Wege unterhöhlt, umgangen und behindert werden. Und die Demokratien der betroffenen Länder sind nicht mehr so frei, die Gesetze zu erlassen, die sie für richtig halten.
Billige Niedrigstandardprodukte werden die anderen vom Markt verdrängen
Aus all diesen Gründen muss das fertige CETA-Abkommen abgelehnt werden und TTIP – wenn überhaupt – komplett neu begonnen werden. Zukünftig müssen Abkommen dieser Art anspruchsvolle Umweltstandards durchsetzen, nicht bekämpfen. Nachhaltige Entwicklungsregelungen sollten über bestehende US- und EU-Handelsabkommen hinausgehen und entsprechend durchsetzbare Verpflichtungen zum schonenden Ressourcenverbrauch und zum Erhalt der Artenvielfalt beinhalten. Und vor allem müssen die Verträge, damit sie gesamtgesellschaftlich und demokratisch legitimiert sind, transparent ausgehandelt werden. Nur dann wird ein Freihandelsabkommen zu einer Chance und nicht zu einer Gefahr für zivilisatorische, soziale und umweltpolitische Errungenschaften - und damit für das Wohlergehen der Menschen.
Alois Vedder ist Leiter für den Bereich Politik der Naturschutzorganisation WWF in Berlin.
Alois Vedder