Fußball-Bundesliga: Videobeweis: Der Fehler liegt im System
Der Ärger um den Videobeweis in der Bundesliga wird weitergehen – von Fußball-Schiedsrichtern wird Unmögliches erwartet. Ein Essay.
Christian Streich hatte sich bereits von seinem Platz erhoben. Sein Körper sendete eindeutige Fluchtsignale aus. Eine Frage noch zum Videobeweis im Spiel von Eintracht Frankfurt gegen den Hamburger SV. Nee, dazu sage er nichts, sagte der Trainer des SC Freiburg. Nur das noch, bevor er das Podium verließ: „Ist bei uns fünf oder sechs Mal passiert diese Saison.“
Streich hatte zuvor „irgendwelche wahnsinnigen Videobeweis-Sachen“ gegeißelt, unter denen seine Mannschaft im Kampf gegen den Abstieg immer wieder zu leiden gehabt hatte. Da wirkte es fast wie eine Ironie der Geschichte, dass die Freiburger es am vorletzten Spieltag einer zumindest strittigen Entscheidung des Videoassistenten zu verdanken hatten, in dieser Saison nicht mehr direkt absteigen zu können. Dabei sollte es mit dem Prinzip der ausgleichenden Ungerechtigkeit dank Videobeweis doch eigentlich vorbei sein.
Die Hamburger waren in Frankfurt zeitig in Führung gegangen, doch der Schiedsrichter annullierte das 1:0 wieder – nach Intervention aus Köln: Tatsuya Ito soll knapp im Abseits gestanden haben. Es gibt Fernseheinstellungen, die diese Sicht belegen. Der Oberkörper des Japaners scheint sich einen Hauch vor dem letzten Verteidiger der Frankfurter befunden zu haben.
Und trotzdem bleiben Zweifel: Lässt sich der Moment der Ballabgabe überhaupt eindeutig bestimmen? Wie verlässlich ist die Hilfslinie, die der Videoassistent in Köln bemühen kann? Und soll er nicht nur dann eingreifen, wenn eine krasse Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Platz vorliegt; wenn es also keine Zweifel gibt?
Anders als andere Sportarten hat sich der Fußball lange gegen die Einführung des Videobeweises gesträubt – was ihm viel Unverständnis eingebracht hat: Warum ziert ihr euch gegen etwas, was bei anderen bestens funktioniert? Auch die Debatten seit Einführung des Videobeweises zu dieser Saison dienen den Kritikern als Beleg dafür, wie rückständig und verstaubt der Fußball doch sei.
Das Problem sind die Graubereiche
Ein Argument wird dabei allerdings immer außer Acht gelassen. Jede Sportart hat ihre Eigenheiten, und eine Eigenheit des Fußballs ist, dass es in den Regeln Graubereiche gibt und vieles Auslegungssache ist. Die Technik hilft einem Schiedsrichter da nur bedingt weiter, weil es am Ende doch wieder auf seine Interpretation ankommt.
Die positiven Erfahrungen des Hockeysports mit dem Videobeweis werden dem Fußball immer wieder vor die Nase gehalten. Aber im Hockey ist Fuß eben Fuß. Bekommt ein Abwehrspieler den Ball im Schusskreis gegen den Fuß, liegt ein Vergehen vor, das mit einer Strafecke zu ahnden ist. Mit Hilfe von TV-Bildern lässt sich das in der Regel eindeutig klären und damit vom Schiedsrichter entsprechend sanktionieren – weil er nicht zwischen „Absicht“ oder „nicht Absicht“ unterscheiden muss. Im Fußball ist das anders: Hand ist nicht zwingend Hand. Dem Spieler muss auch eine Absicht nachgewiesen werden, wofür es verschiedene Parameter (Vergrößerung der Körperfläche, unnatürliche Handhaltung) gibt.
Man könnte nun entgegnen, dass das für den konkreten Fall am Samstag in Frankfurt nicht relevant sei. Es habe in dieser Situation nur zwei Möglichkeiten gegeben: Abseits oder kein Abseits. Insofern könne per se keine „krasse Fehlentscheidung“ vorliegen, sondern nur eine Fehlentscheidung. Denn wo finge die krasse Fehlentscheidung an: Wenn der Stürmer einen Meter im Abseits steht? Abseits ist er schon, wenn er sich nur einen Zentimeter zu weit vorne befindet. Ist das so wie bei Ito, darf das Tor nicht zählen. Es gibt allerdings auch in diesem Fall einen Graubereich in den Regeln: Der Schiedsrichter soll nur dann auf Abseits entscheiden, wenn er sich zweifelsfrei sicher ist. Daraus hat der Volksmund das Prinzip „Im Zweifel für den Angreifer“ gemacht. In den Regeln steht das nicht explizit, und eine solche Deutung ist zumindest übertrieben. Eher müsste es heißen: „Im Zweifel nicht gegen den Angreifer“.
So, wie der Videobeweis im Moment im Fußball gehandhabt wird, verlangt er von den Schiedsrichtern Unmögliches: Und dieses Problem wird sich auch durch die zunehmenden Erfahrungen mit dem neuen Hilfsmittel nicht aus der Welt schaffen lassen. Bisher sind Schiedsrichter es gewohnt, nach ihren Wahrnehmungen auf dem Platz Entscheidungen zu treffen. Durch den Videobeweis müssen sie gewissermaßen die Vogelperspektive einnehmen: Sie sollen nicht mehr das Spielgeschehen bewerten; sie sollen ihre eigene Entscheidung bewerten. Sie agieren damit praktisch auf der Metaebene.
Es spricht vieles für ein Challenge-System
Vor einer Woche gab es im Spiel zwischen Schalke 04 und Borussia Mönchengladbach einen Fall, mit dem sich das Dilemma sehr gut illustrieren lässt: Schiedsrichter Harm Osmers verhängte nach Intervention des Videoassistenten und eigener Ansicht der Fernsehbilder einen Handelfmeter gegen die Gladbacher, nachdem er, dank exzellenter Sicht auf das Geschehen, zunächst hatte weiterspielen lassen. Christoph Kramer hatte den Ball aus kurzer Distanz an den abgewinkelten Arm bekommen. Es sprach deutlich mehr für ein strafbares Handspiel als dagegen. Aber weil eben auch leichte Zweifel vorlagen (die kurze Distanz, die schlaffe Armhaltung), konnte von einer krassen Fehlentscheidung keine Rede sein. Schiedsrichter Osmers revidierte sich trotzdem – und das war nur menschlich.
Es ist schon fast schizophren: Osmers hat wohl die richtige Entscheidung getroffen – und damit gegen die Regeln zur Anwendung des Videobeweises verstoßen. Er hat nicht seine Entscheidung bewertet; er hat die Situation im Spiel noch einmal neu bewertet. Und vielleicht hat er zumindest intuitiv geahnt: Wenn ich jetzt keinen Elfmeter gebe, ist die Aufregung hinterher größer, als wenn ich einen gebe – weil mehr für einen Elfmeter spricht als dagegen. Oder um es mal auf den Punkt zu bringen: Es wird vom Schiedsrichter explizit verlangt, eigene Fehler unrevidiert zu lassen, wenn der Fehler eben nicht krass genug war. Daran wird der Videobeweis in der Praxis immer wieder scheitern.
Das aktuelle System lässt sich schwer vermitteln
Zu sehen war das auch am Samstag beim zurückgenommenen Führungstor der Hamburger. Ob Ito im Abseits gestanden hatte oder nicht, wird sich nicht zweifelsfrei klären lassen. Aber es sprach einiges für eine (leichte) Abseitsstellung als dagegen. Also entschied sich der Videoassistent – menschlich verständlich – für den Weg des geringeren Widerstands. Man stelle sich vor, der HSV hätte das Spiel durch ein zweifelhaftes Tor 1:0 gewonnen und sich damit die Chance auf die direkte Rettung erhalten.
Nach der Neujustierung des Videobeweises in der Winterpause hat die öffentliche Aufregung zeitweise erheblich nachgelassen, weil erkennbar seltener eingegriffen wurde. In den vergangenen Wochen aber ist ein Rückfall in alte Zeiten zu beobachten. Vermutlich will sich kein Schiedsrichter in dieser Phase der Saison vorhalten lassen, durch Unterlassung maßgeblich auf die großen Entscheidungen wie Abstieg oder Europacup-Qualifikation eingewirkt zu haben.
Hinzu kommt das Vermittlungsproblem. Selbst die direkt Beteiligten verblüffen einen immer wieder durch ihre Ignoranz. So hat Fredi Bobic, der Vorstandschef von Eintracht Frankfurt, vor zwei Wochen über einen Elfmeter für Hertha BSC gezetert: „Wahrnehmungsfehler vom Schiedsrichter verstehe ich. Aber wenn der Puls runtergeht, wie beim Biathlon am Schießstand, und der Schiedsrichter sich das noch mal in Ruhe anschaut – dann noch einmal das Gleiche zu sehen, das hat er exklusiv.“ Aber so ist es eben nicht: Es geht nicht darum, ob der Schiedsrichter noch einmal das Gleiche sieht – es geht darum, ob er etwas komplett anderes sieht. Das hat er beim Elfmeter für die Berliner nicht getan. Insofern war es nur korrekt, dass er bei seiner Entscheidung geblieben ist.
Das Dilemma scheint nicht auflösbar. Es gäbe allerdings eine simple Möglichkeit, wie die Schiedsrichter von der psychologischen Last befreit würden, über ihre eigenen Entscheidungen richten zu müssen: indem man beiden Mannschaften das Recht einräumt, bestimmte Situationen vom Videoschiedsrichter begutachten zu lassen, wie es in anderen Sportarten (Hockey, Tennis, American Football) der Fall ist. Der Schiedsrichter könnte dann jede Szene wieder – im Wortsinne – vorurteilsfrei bewerten. Der Weltverband Fifa hat davon bisher abgesehen, weil man den Schiedsrichter nicht hinterfragen und seine Autorität untergraben wolle. Die bisherigen Erfahrungen zeigen: Das Gegenteil ist der Fall.