Chorleiter Ud Joffe im Porträt: Der Widersänger
Ud Joffe ist leidenschaftlicher Chorleiter, polarisierender Vorsitzender der Synagogengemeinde Potsdam und Festivalgründer: Sein Vokalfestival Vocalise feiert ausgerechnet im Corona-Jahr 20. Jubiläum. Ein Porträt
Potsdam - Ud Joffe hätte Schauspieler werden können, aber die Stelle war weg. Den Weg hatte schon seine ältere Schwester gewählt. Auch Kampfpilot hätte er nach dem Militärdienst sein können, wollte aber lieber künstlerische Höhenflüge. So kam er zur Musik. Früher am liebsten Jimi Hendrix. Heute eher Bach, Mendelssohn oder, wie im Konzert am kommenden Sonntag, Arvo Pärt. Chorkompositionen. Käme man auf die Idee, das als den Umschwung von U- auf E-Musik zu beschreiben, erregte man Joffes aufbrausenden Widerspruch. Unterhaltung ist beides, sagt er. Ernst auch.
Ud Joffe, geboren 1967 im Großraum Tel Aviv, kennt man in Berlin als ehemaligen Leiter des Sibelius Orchesters und des Neuen Chores Berlin. In Potsdam hat er längst den Ruf eines stadtbekannten Widersprechers. 1997 kam er als Kantor der Erlöserkirche nach Potsdam, ein 30 Jahre junger Absolvent der Universität der Künste. Davor hatte er in Jerusalem studiert, in Paris gewohnt, zuletzt in Berlin. Er kam in eine Stadt im Umbruch. Theater spielte man in Potsdam in einem Provisorium aus Blech. Der Chor des Theaters war bereits abgewickelt. Die Brandenburgische Philharmonie Potsdam stand vor der Auflösung: 1999 gab es sie nicht mehr.
Neugründungen im Potsdamer Vakuum
Ud Joffe spürte ein Vakuum und setzte dem Neugründungen dagegen. 1999 den Neuen Kammerchor Potsdam. 2000 das Neue Kammerorchester Potsdam. 2001 das Gesangsfestival „Vocalise“. Das erste Vocalise-Festival damals war bescheiden: ein Rezital. Bald kamen The King's Singers, Mojca Erdmann, Nordic Voices.
Mit dem 20. Jubiläum des Festivals kam auch Corona. Im Frühjahr entdeckte Joffe zu seinem Glück: Singen mit Maske, das geht. Im Juni lud er erstmals nach dem Lockdown wieder zur Probe ein. Mit Maske. Ohne hätten auf dem verfügbaren Platz in der Potsdamer Erlöserkirche sechs Sänger Platz. Also das kleinere Übel: Mundnasenschutz. Was den Klang anbelangt, macht das keinen Unterschied, sagt Joffe. Von der Verständlichkeit her schon. Also mehr Vokale, weniger Konsonanten. Er singt es raumgreifend vor. „Hören Sie?“, ruft er. „Der Schmelz! Der Klang!“
Corona will uns etwas sagen, sagt Joffe
Um die Vocalise auch im Jubiläumsjahr möglich zu machen, streckte Ud Joffe das Festival über 20 Konzerte und 20 Wochen. Plante um, dünnte aus. „Corona will uns etwas sagen“, sagt er. Dieses Immer-Schneller, Immer-Mehr, das die Menschen antreibt, sei nicht gut. „Einfach mal 30 Prozent runter fahren. Dann erreichen wir den Mars eben in 60 Jahren, und nicht in 20. Na und?“
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Dass das gerade jemand sagt, der so viele Projekte initiierte – jüngste Neugründung: ein Knabenchor – erstaunt. Aber Joffe sagt: „Ich muss nicht mehr jedes Mal auf den Everest klettern.“ Vielleicht heißt auch nur der Gipfel jetzt anders. Ud Joffe ist nicht nur Künstler, sondern auch orthodoxer Jude und Vorsitzender der Potsdamer Synagogengemeinde. Den ökumenischen Gottesdienst anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit in Potsdam leitete er in Kippa und Gebetstuch. „Ich bin bekennender Jude, und will auch erkannt sein.“ Zuhause in Israel vor dem Fernseher gab es Tränen, als man ihn so sah. Im Gewand orthodoxer Juden am Jahrestag der Deutschen.
"Um mich mundtot zu machen, muss man mich erschießen"
Joffe will nicht nur als Jude erkannt sein, er will auch, dass man die für Potsdam geplante Synagoge als solche sofort erkennt. Die Finanzierung durch das Land wurde bereits 2005 beschlossen. Auf einen mehrfach umgearbeiteten Entwurf des Architekten Jost Haberland hatte man sich im Frühjahr dieses Jahres geeinigt; wenig später kippte die Zustimmung. Die Gemeinde sei vom Land überrumpelt worden, sagt Joffe. Die Landesregierung habe die Mitsprache an der Innenausgestaltung der Synagoge ausschließlich in die Hände des Architekten legen wollen.
Da machte Joffe nicht mit. Es kam zum Eklat. „Man will uns mundtot machen“, sagt Joffe, und meint die Landesregierung. „Aber um mich mundtot zu machen, muss man mich erschießen.“ Er sagt auch, weniger polemisch: Das Problem ist, dass das Land Brandenburg Bauherr über den geplanten Neubau ist. „Wir müssen Bauherren sein.“ Das Land dürfe keine Sakralbauen in Auftrag geben. Es dürfe sie nur fördern.
Antisemitismus? Wenn man Juden kritisiert, wofür man andere nicht kritisiert
Ja, Joffe polarisiert. Einige Mitglieder der Synagogengemeinde haben aus Protest gegen Joffes Haltung seine Gemeinde verlassen. Dafür, sagt Joffe, seien inzwischen 30 neue dazugekommen. Er weiß, dass es viel Unverständnis für den Streit zwischen den beiden großen Potsdamer Gemeinden gibt, der Jüdischen Gemeinde Stadt Potsdam und Joffes Synagogengemeinde. Joffe zitiert gern Henryk M. Broder: „Wenn man Juden dafür kritisiert, wofür man andere nicht kritisiert, dann ist das Antisemitismus.“ Im Potsdamer Synagogenstreit heißt es tatsächlich oft, wenn auch nicht offen: Die Juden streiten wieder. Und die Garnisonkirche? Die Alte Fachhochschule? Das Stadtschloss? Gestritten wird in Potsdam überall. Toleranz beginnt da, sagt Joffe, wo ein Widerstand überwunden werden muss. Sonst ist es nur Akzeptanz.
Joffe mag große Gesten, auch in der Musik. Das eckt an. „Wir brauchen hier keine Show!“, hatte ihm Friedrich Meinel gesagt, der vor Joffe Jahre 57 Jahre lang Kantor an der Erlöserkirche war. Doch, entgegnet Joffe: Die Leute sollen schwach werden. Nicht in erster Linie vom Text; vom Klang. Der Komponist Frederick Delius habe sogar eine ganze Chorkomposition nur auf „A“ geschrieben.
Johann Sebastian Bach "Eine feste Burg" am Samstag, 31. Oktober um 11 Uhr, und Arvo Pärt "Berliner Messe" am Sonntag, 1. November um 17 Uhr, in der Erlöserkirche Potsdam. Weitere Konzerte sind für Dezember geplant. Karten können ausschließlich über die Webseite des Festivals bestellt werden.
Lena Schneider
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