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Potsdamer Knabenchor probt in der Luxemburgschule.
© Andreas Klaer

Der Potsdamer Knabenchor: In den Pausen ganz irdisch

Vor rund einem Jahr hat Ud Joffe einen Knabenchor gegründet. Heute begleiten die Jungen im Nikolaisaal Martina Gedeck bei einer Lesung.

Potsdam - Mit einer Tasche voller Fußbälle kommt Ud Joffe den Schulflur entlang, öffnet schwungvoll wie ein Sporttrainer die Tür zur Aula, legt ab und krempelt sich die Ärmel hoch. Erstmal ist Möbelrücken dran, Edelstahltresen und Mensa-Tische zur Seite schieben und Platz machen für einen Halbkreis von etwa 25 Stühlen. In der Mitte steht bereits der Flügel. „Ein gutes Instrument. Und die Akustik ist hier auch gut.“ Joffe, Kantor an der Erlöserkirche und Leiter des im März gegründeten Knabenchors, ist zufrieden. Gleich kommen die ersten Jungs. Seine „singende Mannschaft“, wie er sagt. Deshalb auch die Bälle – in der Pause wird im Hof Fußball gespielt.

Das Bild der Mannschaft findet er gut. Sport und Musik haben vieles gemeinsam, sagt er. Beides funktioniert nur im Team, der einzelne wird gefördert und soll und darf alles geben und sich auch profilieren. Jeder müsse sich aber auch mal zurücknehmen können. Wie das klingt, kann man am heutigen Donnerstag im Konzert erleben. Der Knabenchor begleitet die Lesung von Martina Gedeck im Nikolaisaal: „Himmlische Boten: weihnachtliche Texte und Geschichten und Gedichte von Engeln“.

Der Potsdamer Knabenchor trainiert seine Stimmen.
Der Potsdamer Knabenchor trainiert seine Stimmen.
© Andreas Klaer

Diskussion über Gendergerechtigkeit

Ganz irdisch ist der Chor im Nachmittagsangebot der Rosa-Luxemburg-Grundschule fest etabliert und die Diskussionen vor gut einem Jahr, ob es denn heute noch angemessen wäre, einen Knabenchor zu gründen, wo doch alle Welt über Gendergerechtigkeit spricht, scheint längst vergessen. „Jungs singen ebenso gern wie Mädchen, fühlen sich aber in gemischten Chören, wenn sie nur wenige sind, oft unwohl und hören dann bald wieder auf.“ Ein Knabenchor sei deshalb bewusste Nachwuchsförderung, die später allen zu Gute kommt, sagt Joffe. „Wenn wir jetzt die Jungs nicht gezielt ausbilden, haben wir in ein paar Jahren nicht mehr genug Männerstimmen in den gemischten Oratorienchören und können die Hauptwerke der abendländischen Chorliteratur nicht mehr aufführen.“

Ganz bewusst probt der Knabenchor von Anfang an in einer Schule, um zu zeigen, dass er nicht an eine Gemeinde gebunden, sondern offen für alle ist. Joffe hat viel vor: Nach dem Vorbild großer Knabenchöre soll hier auf hohem Niveau gesungen werden. Das wird ein bisschen dauern, Stimmentwicklung braucht Zeit. „Mal sehen, was wir schaffen“, sagt er.

Chorleiter Ud Joffe.
Chorleiter Ud Joffe.
© Andreas Klaer

„Die Jungen nehmen das sehr ernst"

Sophie Malzow findet, die Jungs haben schon große Fortschritte gemacht. Sie teilt sich mit Joffe die Leitung und ist vor allem für die Stimmbildung zuständig. „Die Jungen nehmen das sehr ernst, die Anwesenheitsdisziplin ist groß“, sagt Malzow erfreut. Die Kinder von sieben bis 14 Jahren kommen aus dem gesamten Stadtgebiet, aus Michendorf und Wannsee. Geprobt wird zweimal wöchentlich: Stimmbildung und Gesamtchorprobe.

„Das ist schon sehr zeitaufwändig, man hat ja noch andere Sachen zu tun“, sagt Hans, elf Jahre alt. Aber singen wollen sie nun mal. Orlando, neun, singt gerne zu Hause oder auf dem Schulweg, Henri singt gerne im Musikunterricht, aber das ist nicht so gut wie hier in der Gruppe. „Ohne Mädchen ist es cool“, sagt einer, und sein Nachbar wirft ein: „Früher durften Mädchen gar nicht im Chor singen!“

Alle Kinder mussten vor ihrer Aufnahme zum Vorsingen. „Wir haben nicht jeden genommen“, sagt Joffe. Wobei man natürlich singen lernen kann. Man höre ja, ob da Potenzial ist, das sich entfalten kann. Vor allem aber muss die Motivation stimmen. „Es reicht nicht, wenn die Mama das gut findet.“

Der Potsdamer Knabenchor probt unter der Leitung von Ud Joffe.
Der Potsdamer Knabenchor probt unter der Leitung von Ud Joffe.
© Andreas Klaer

Pathos ist gewünscht

Jetzt steht Sophie Malzow am Flügel und beginnt mit dem Einsingen. Explosivlaute zum Lockern des Zwerchfells, anschließend sind Wangenmuskulatur und Kiefergelenke dran. Mit der Spannung aus den Flanken gelingen dann die ersten melodischen Legatobögen. Dann wird der Text des ersten Weihnachtslieds gelesen. Altes Englisch, mit „thee“ und „thy“, nicht ganz einfach für Achtjährige. „Be near me, Lord Jesus, I ask thee to stay, close by me forever, and love me always. Bless all the dear children in thy tender care.“ Zum Singen geht es dann hoch auf die Bühne der Aula. Das ist gleich ein ganz anderes Gefühl als im Stuhlkreis. Einen Auftritt im Potsdam Museum hatten sie schon, aber auf der Bühne im Nikolaisaal hat noch keiner von ihnen gestanden.

Die Hälfte der Probe arbeiten sie in zwei Gruppen, Joffe schnappt sich seine Sänger und geht in den Musikraum. Es ist längst dunkel, Kinder und Kantor hatten einen langen Tag. Füße zappeln, Hocker kippeln, Noten fallen seltsamerweise immer wieder vom Pult. Joffe bleibt gelassen. „Die können nicht anders, das ist eben so“, sagt er. Er weiß, dass sie voll präsent sind, wenn es drauf ankommt. „Es ist ein Ros erklungen“ klingt einstimmig engelsgleich, „Adeste fideles“ geht – obwohl Latein – sogar auswendig. Aber Achtung: „Wir singen italienisches Latein, also ein weiches Anschelorum“, sagt Joffe. Und bittet um mehr Pathos. Übrige Energie entlädt sich in der Pause, einer setzt sich ans Schlagzeug, andere rennen auf den Pausenhof. Zeit für die Fußbälle. 

>>Martina Gedeck – Himmlische Boten, mit dem Knabenchor Potsdam, am heutigen Donnerstag um 20 Uhr im Nikolaisaal, Wilhelm-Staab-Straße 10/11

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