Punkt für Punkt zum Sieg: Das sind die besten Comics des Jahres
Die Tagesspiegel-Jury hat gewählt: Das sind für sie die besten Comics des Jahres 2020. Auf Platz 1 landete eine abenteuerliche Groteske im Infografik-Stil.
Wie überzeugend kann man eine Bildgeschichte erzählen, deren Hauptdarsteller nichts als bunte Punkte sind? Der Schweizer Comiczeichner Martin Panchaud lässt die Figuren in seinem Buch „Die Farbe der Dinge“ (Edition Moderne, 224 S., 35 €) in einer aus der Vogelperspektive dargestellten Infografik-Welt agieren. Und in der ist die Hölle los, nachdem ein 14-jähriges, von seinen Londoner Altersgenossen gemobbtes Muttersöhnchen zum millionenschweren Wettgewinner wird.
Ab dann wandelt sich die Geschichte vom traurigen Teenager-Drama zur spektakulären Krimi- Groteske voll irrwitziger Wendungen. Die visuelle Reduktion zwingt den Leser zur Fokussierung auf die Dialoge und den Plot, und die haben es in sich. Als sich die Hauptfigur von falschen Freunden und einer kaputten Familie freistrampelt, steuert die Geschichte in wildem Zickzack auf einen Showdown zu, den man so schnell nicht vergisst.
Die Voten lagen diesmal besonders weit auseinander
Dieser Titel ist jetzt von der Tagesspiegel-Jury zum besten Comic des Jahres 2020 gekürt worden. Zehn Titel wählte die Jury, die erneut aus acht Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseite bestand, dieses Mal in die Endrunde. Jedes Jurymitglied hatte zuvor fünf Favoriten nominiert und mit Punkten von fünf bis eins bewertet.
Hier geht es zu den jeweiligen Top-5-Titeln der Jurymitglieder samt Begründung: Barbara Buchholz, Birte Förster, Christian Endres, Julia Frese, Moritz Honert, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne.
Auf der Shortlist landete jeder Titel mit mindestens fünf Punkten oder zwei Nennungen, diese wurden dann abschließend bewertet. Die abschließende Rangfolge ergibt sich aus der durchschnittlichen Punktzahl. Dabei gingen die Voten der Jurymitglieder in diesem Jahre bei einigen Titeln besonders weit auseinander – siehe Tabelle.
„Die tragisch-komische Coming-of-Age-Krimi-Groteske, die Martin Panchaud erzählt, ist originell“, urteilt Jurymitglied Moritz Honert über den Siegertitel. Doch vor allem grafisch sei „Die Farbe der Dinge“ ein Meisterwerk. „Schon nach wenigen Seiten hofft, leidet und freut man sich mit den Figuren, die nur aus bunten Kreisen bestehen.“ Mit seinem Buch beweise der Schweizer Künstler, „dass das Medium Comic visuell noch lange nicht auserzählt ist“.
Platz 2
Auf Platz zwei landete die Erzählung „Ausnahmezustand“ (Reprodukt, 216 S., 24 €) des US-Amerikaners James Sturm. Anhand einer auseinanderbrechenden Familie und ihres schwierigen Alltags im Jahr der Trump-Wahl 2016 – dargestellt als menschliche Figuren mit Hundeköpfen – berichtet Sturm von Alltageerlebnissen, Ehestreits und verletztem Stolz.
„Er tut das ohne große Aufregung, ohne Pathos, aber mit einer feinen Beobachtungsgabe, die nicht nur ein getreues Bild einer Ära einfängt“, wie Jury-Mitglied Moritz Honert urteilt, „sondern auch das Große im Kleinen aufzeigt, das Tragische im vermeintlich Banalen“. Und Jury-Kollege Christian Endres befindet: „Ein subtiler, empathisch beeindruckender, exzellent inszenierter Comic über die Risse in einer Gesellschaft, die sich durch alles ziehen.“
Platz 3
Das Comicdebüt der Berliner Künstlerin Büke Schwarz, „Jein“ (Jaja Verlag, 232 S., 24 €) wurde als drittbester Comic ausgezeichnet. Schwarz wirft mit ihrer autobiografisch inspirierten Erzählung vom Einbruch des Politischen in den Alltag der Berliner Künstlerin Elâ Wolf „essenzielle Fragen auf, die noch lange nachhallen“, sagt Jurorin Birte Förster. „Es geht um die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst und die eigene Identität als Künstlerin mit türkischen Wurzeln.“
Und Jurorin Barbara Buchholz hebt hervor: „In ,Jein‘ wird viel diskutiert und theoretisiert, und das so leichtfüßig zu erzählen, mit einer Prise Humor, wie Büke Schwarz es tut, ist eine Kunst. Das gelingt nicht zuletzt dank der grafischen Umsetzung, die nicht von Text erschlagen wird: wunderschöne Zeichnungen mit malerischem Strich, grau aquarelliert und effektvoll eingesetzte Hell-Dunkel-Kontraste.“
Platz 4
Auf Platz vier schaffte es der Auftaktband der sechsbändigen Manga-Reihe „Sunny“ (Carlsen, Band 1: 224 S., 16 €) von Taiyo Matsumoto, die in einem japanischen Kinderheim in den 1970er Jahren spielt.
„Der Zeichner verarbeitet mit lockerem, scharf abgegrenztem Strich, kräftigen Strukturen und aquarelligen Details einfühlsam seine eigenen Erfahrungen als Pflegekind in den berührenden, realitätsnahen Geschichten“, lobt Jurymitglied Sabine Scholz.
Platz 5
Der Münchener Zeichner Uli Oesterle schöpft für „Vatermilch“ (Carlsen, Band 1: 128 S., 20 €) ebenfalls aus der eigenen Biografie. Im ersten Band der Erzählung, den die Jury auf Platz 5 wählte, erfährt der Ich-Erzähler vom Tod seines Vaters, der Jahrzehnte zuvor aus seinem Leben verschwunden war.
Oesterle „beherrscht nicht nur die differenzierte, abgründige und zugleich anrührende Charakterzeichnung, die zu einfache Schuldzuweisungen vermeidet“, befindet Juror Ralph Trommer. „Es gelingt ihm auch, seine im Grunde tieftraurige Geschichte eines Absturzes auf leichtfüßige Weise und mit pointiertem Humor konsumierbar zu machen.“
Platz 6
Der in Berlin lebende Comiczeichner Lukas Jüliger erzählt in seinem Buch „Unfollow“ (Reprodukt, 168 S., 18 €), das es auf Platz 6 schaffte, von einem Öko-Influencer namens Earthboi, dessen hehre Ideen in einer nicht allzu fernen Zukunft eine bedrohliche Dynamik entwickeln.
„Eine moderne Fabel im Einklang mit dem Zeitgeist unserer Welt, Netzwerke, Medien und Bewegungen“, sagt Jurymitglied Christian Endres – „Seite für Seite überzeugend erzählt und außergewöhnlich bebildert“.
Platz 7
Auch in Jérémy Perrodeaus Science-Fiction-Erzählung „Dämmerung“ (Edition Moderne,144 S., 32 €), der e auf Platz 7 landete, spielen ökologische Themen eine Rolle.
Jurorin Barbara Buchholz lobt es als „ein formal wie inhaltlich faszinierendes Stück Fiktion“ und hebt vor allem das durchdachte grafische Konzept des Buches hervor: „Perrodeau verlässt sich streckenweise komplett auf seine Bildsprache, und das funktioniert sehr gut.“
Platz 8
Erst langsam werden hierzulande die Werke des inzwischen 83-jährigen Mangaautors Yoshiharu Tsuge entdeckt. Sein Buch „Der nutzlose Mann“ (Reprodukt, 416 S., 24 €) wurde auf Platz 8 gewählt.
„In den nachdenklich stimmenden Episoden aus dem Leben eines Gescheiterten erfährt man als Leser viel über die japanische Gesellschaft und ihr Männerbild“, urteilt Jurymitglied Julia Frese. Auch wenn der Leistungsgedanke in Japan deutlicher ausgeprägt ist als hierzulande, gebe das Buch doch auch dem deutschen Publikum viele Denkanstöße.
Platz 9
Auf Platz 9 kamen die unter dem Titel „Abteilung für irre Theorien“ (Edition Moderne, 160 S., 19,80 €) gesammelten Arbeiten des Schotten Tom Gauld zu wissenschaftlichen Themen.
„Gauld ist ein begnadeter Reduzierer, dessen so trügerisch simpel aussehende Comicstrips und Cartoons umso mehr Witz, Hintersinn, Ironie und Signatur haben“, sagt Juror Christian Endres.
Platz 10
Auf den zehnten Platz kam ein Titel, den der Autor dieser Zeilen favorisierte: Max Baitingers Episodencomic „Happy Place“ (Rotopolpress, 160 S., 18 €).
Der Leipziger Zeichner erzählt darin mit surrealistischer Fantasie und einem melancholisch angehauchten Witz von den Absurditäten des menschlichen Lebens – und lädt dazu ein, den eigenen Alltag zu hinterfragen, nicht alles ganz so ernst zu nehmen und zumindest in Gedanken mal aus vertrauten Bahnen auszubrechen.
Die Favoriten der Leserinnen und Leser
Parallel zum Votum der Tagesspiegel-Jury fragen wir auch in diesem Jahr wieder unsere Leserinnen und Leser: Welches waren für Sie die besten Comics des Jahres?
Hier gibt es eine Auswahl der bisher eingereichten Antworten. Bis zum 20. Dezember werden unter allen Einsendenden wertvolle Comic-Buchpakete verlost.
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