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Martin Germer betreut Opfer und Familien, pflegt Kontakte mit muslimischen Glaubensvertretern und bereitete den Jahrestag mit vor.
© Christian Ditsch/epd

Pfarrer zum Breitscheidplatz-Jahrestag: "Wir lassen uns nicht gegeneinander aufbringen"

Martin Germer, Pfarrer der Gedächtniskirche, spricht über Trauerarbeit, den Gedenkort und den Austausch mit Muslimen. Ein Interview.

Herr Germer, wie haben Sie und die Gemeinde der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche das Jahr nach dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz erlebt?

Das ganze Jahr war für mich und meine Kolleginnen und die Menschen, die bei uns in der Gemeinde ehrenamtlich tätig sind, sehr stark geprägt durch dieses Ereignis. Es war uns natürlich präsent und bewusst, wir haben ja auch immer wieder damit zu tun gehabt – im Mai zum Beispiel gab es die große Veranstaltung in unserer Kirche, zu der Verletzte und Angehörige der Todesopfer eingeladen waren.

Hinzu kamen andere Gedenkveranstaltungen und Gottesdienste zu besonderen Anlässen. Natürlich wurde auch erwartet, dass wir das thematisieren. Punktuell hatten wir Kontakt mit Angehörigen. Und schon seit März gab es Vorbereitungen mit der Frage: Wie gestalten wir den Gedenkort, und wie soll der Jahrestag vonstatten gehen?

Gab es dabei besondere Erlebnisse oder besondere Bekanntschaften?

Ja, für uns an der Gedächtniskirche hat sich ein intensiver Kontakt zu Muslimen neu ergeben. Das fing damit an, dass im Januar der stellvertretende Vorsitzende der Neuköllner Begegnungsstätte – der Dar-as-Salam-Moschee – bei mir anrief und sagte, sie würden gerne auf dem Breitscheidplatz ein interreligiöses Friedensgebet und eine Friedenskundgebung organisieren; ob ich damit einverstanden wäre und ob wir das unterstützen würden.

Hatten Sie keine Bedenken? Die Dar-as-Salam-Moschee genießt ja nicht den besten Ruf und wird vom Berliner Amt für Verfassungsschutz beobachtet.

Ich habe erst einmal gesagt: Da muss ich überlegen, darüber müssen wir in der Gemeinde reden. Und dann habe ich Erkundigungen eingeholt: Was ist das für eine Moscheegemeinde, was sind das für Partner, können wir das zusammen machen, wie ernst ist das gemeint und was steht dahinter?

Die Kundgebung hat dann im März stattgefunden, aus meiner Sicht eine wirklich gelungene Sache. Viele unterschiedliche muslimische Richtungen waren vertreten. Einer der Schlüsselmomente: Ein schiitischer Imam spricht ein Gebet für den Frieden auf Arabisch, um ihn herum lauter Muslime – und alle gemeinsam sagen dazu Amen.

Angesichts der Weltsituation und der politischen Verhältnisse zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ist das ja etwas. Und daraus ist einfach mehr geworden. Wir sind seither in gutem Kontakt. Im Sommer haben wir den Marsch der Muslime mit den französischen und belgischen Imamen hier veranstaltet und im Herbst drei Abendveranstaltungen, wo es unter unterschiedlichen Aspekten um muslimisches Leben und Glauben ging.

Wir wollen gerade auch die Normalität in den Blick nehmen und etwas dagegensetzen, dass der Islam immer gleich automatisch mit Terror konnotiert wird. Das Engagement der Verantwortlichen der Neuköllner Begegnungsstätte im Sinne von Dialog und Integration beeindruckt mich sehr.

Zum Beispiel haben sie gerade einen Aufruf gegen antisemitisches Auftreten von Muslimen veröffentlicht und damit ein starkes und mutiges Zeichen in ihre Community gesendet. Leider wurde das – wieder einmal, wie ich sagen muss – in der gesamten Medienwelt totgeschwiegen.

Wie sehen Sie die Rolle der Bundeskanzlerin? Angehörige der zwölf Getöteten warfen Angela Merkel in einem Offenen Brief vor, sie habe ihnen nicht kondoliert. Auch der Besuch der Kanzlerin bei Händlern auf dem Weihnachtsmarkt in der vorigen Woche wurde vielfach als zu spät kritisiert.

Wir hatten ja am Tag nach dem Anschlag einen großen Gottesdienst hier in der Kirche, bei dem der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin, das gesamte Bundeskabinett und auch der damalige Bundestagspräsident – also alle Spitzen des Staates – anwesend waren. Frau Merkel war an diesem Tag schon mittags da, genauso wie andere Kabinettsmitglieder und der Regierende Bürgermeister.

Und im Laufe der folgenden Woche war die Bundeskanzlerin mehrmals in der Kirche – mit Staatsgästen, die den Wunsch hatten, an den Gedenkort zu kommen. Sie hat zusammen mit ihnen Blumen niedergelegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nicht auch innerlich Anteil genommen hat an dem, was geschehen ist. Ich vermute, dass es eine Arbeitsteilung gab in dem Sinne, dass der Bundespräsident die Angehörigen einlädt.

Der goldene Riss am neuen Gedenkort soll symbolisieren, dass ein entstandener Riss durch die Gesellschaft gekittet wird. Gab es nach dem Anschlag denn überhaupt einen solchen Riss?

Ich habe ihn nicht empfunden und glaube, dass wir von Anfang an das Mögliche und Nötige dagegen getan haben. Ich möchte an den Fernsehgottesdienst am 20. Dezember 2016 erinnern, wo wir überkonfessionell zusammengestanden haben – mit Muslimen, einem jüdischen Rabbiner und Vertretern verschiedener christlicher Konfessionen.

Das sollte zeigen: Wir lassen uns nicht gegeneinander aufbringen. Bekanntlich ist es ein strategisches Ziel der Terrorplaner beim sogenannten „Islamischen Staat“, Situationen herbeizuführen, für die Muslime verantwortlich gemacht werden. Diesem Kalkül entgegenzutreten, war die Aufgabe und scheint mir gelungen zu sein.

Also könnte man sagen, dass der verschlossene Riss sogar das repräsentiert. Wir haben uns nicht in eine Spaltung hineindrängen lassen. Für die direkt Betroffenen ist es natürlich ein schrecklicher Riss. Jemand ist aus ihrem Leben gerissen worden, und das ist leider nicht zu heilen. Diesen Riss so zu integrieren, dass man trotzdem irgendwann wieder freier leben kann, wird für viele wohl noch lange dauern.

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