Bundestagswahl: Wie stark ist die AfD wirklich?
Bekommt die AfD bei der Bundestagwahl weniger oder mehr als zehn Prozent? Wahlforscher werden unsicher, Prognosen ungenauer. Eine Analyse.
Kalt und regnerisch ist es auf dem Marktplatz in Torgau, vor allem aber ist es laut. Etwa 1200 Zuhörer sind zu Angela Merkels Wahlkampfauftritt gekommen. Doch wenn es nach dem Krach und den Hass-Plakaten geht, dann dominieren am Mittwoch nicht die Anhänger der Kanzlerin den Platz, sondern ihre Gegner, allen voran die von rechts. Auf etwa 200 wird die Polizei später die Zahl der Störer schätzen.
Für die CDU-Chefin sind „Volksverräter“-Plakate und „Hau ab“-Gebrüll in diesem Wahlkampf ständige Begleiter, doch so massiv war es noch nie. Das mag regionale Gründe haben, obwohl der Wahlkreis Nordsachsen eigentlich CDU-Land ist. Aber die Szene steht wie ein Sinnbild für eine Sorge, die inzwischen nicht nur in der CDU etliche umtreibt: Ist die „Alternative für Deutschland“ (AfD) am Ende deutlich stärker, als sie in den Umfragen erscheint?
Der Befund
Abgeordnete sind dieser Tage viel im Wahlbezirk unterwegs. Ein Sozialdemokrat aus den neuen Ländern macht dabei eine irritierende Erfahrung: Gerade im Haustür-Wahlkampf bekommt er es zunehmend mit Menschen zu tun, die ihn offen angehen. „Ich spüre keine Hemmung mehr, sich zur AfD zu bekennen“, sagt der Mann. „Deshalb halte ich diese Partei in Umfragen für unterbewertet – nicht nur im Osten. Denn ähnliche Erfahrungen höre ich auch von anderen Bundestagskollegen.“
Tatsächlich ist der Mann damit in breiter Gesellschaft. Auch in der CDU trauen viele schon lange jenen Umfragen nicht, die die AfD bei acht Prozent verorten. „Vom Gefühl her sind die stärker“, sagt ein erfahrener CDU-Mann aus Rheinland- Pfalz. Schließlich warnen auch die Demoskopen selbst davor, ihre heutigen Zahlen vorschnell auf den 24. September hochzurechnen.
Bei einer Partei wie der „Alternative“ gilt die Warnung doppelt. Forschungsgruppen- Chef Matthias Jung beobachtet nach wie vor eine „unterdurchschnittliche Teilnahmebereitschaft“ von Sympathisanten am rechten Rand. Der Politikwissenschaftler Rudolf Korte hat für die Verweigerung eine Erklärung: Für Anhänger populistischer Positionen sei die Wahlforschung Teil jenes etablierten Systems, das sie ablehnen. Die Demoskopen wissen das natürlich. Sie rechnen zu den gemessenen AfD-Zahlen einen Schweigezuschlag von zwei, drei Prozent hinzu.
Doch auch dann lässt sich zumindest eines ablesen: Von dem Tiefpunkt, auf dem die AfD im März des Jahres stand, sind die Werte für die Rechtspopulisten kontinuierlich wieder angestiegen. Mehrere Institute sehen sie derzeit bei elf Prozent. Das wäre Platz Drei hinter Union und SPD.
Die Gründe
Verwunderlich findet die Entwicklung keiner, der sich näher mit der Sache befasst. „Die AfD lag das ganze Jahr 2016 hindurch im Schnitt über zehn Prozent“, sagt ein Mitarbeiter einer Wahlkampfzentrale. Dass sie zum Frühjahr hin plötzlich schwächelte, scheint eine Nebenwirkung des Martin- Schulz-Hypes gewesen zu sein.
Der SPD-Kandidat galt damals als einer, der Merkel aus dem Kanzleramt jagen könnte. Das machte ihn zum neuen Favoriten auch für Wähler, die bis dahin in einer AfD-Proteststimme den einzigen Weg gesehen hatten, Merkel zu schaden.
Doch die Tage des „Schulz-Zugs“ sind vorbei und damit auch der Rücklauf von Protestwählern zur SPD. „Die sind alle wieder zurück“, vermutet ein Kampagnenmann. Hinzu kommt etwas anderes: Der Wahlkampf lässt der „Alternative“ viel Raum, ihr Spiel zu treiben.
Das Hauptrennen um die Kanzlerschaft birgt so gar kein Überraschungsmoment. Spätestens seit dem TV-Duell glaubt selbst in der SPD niemand mehr an einen Sieg des eigenen Kandidaten. Die neuen Umfragen, die in dieser Woche nach dem Fernsehauftritt erhoben wurden, bestätigen nur den Augenschein: Schulz hat das Blatt nicht wenden können, Merkel hält ihn und die SPD zweistellig auf Distanz.
Wo der Zweikampf aber matt bleibt, weicht die Wahlberichterstattung schnell auf Nebenschauplätze aus. Für FDP, Grüne und Linke wäre das eigentlich eine gute Gelegenheit, um Aufmerksamkeit zu werben. Doch am unverfrorensten weist die AfD den Weg.
Das Spiel
Das zeigen schon die Szenen von Torgau. Wer mehr als eine Merkel-Kundgebung im Osten erlebt hat, dem kommen manche Schreigesichter und Wutplakate bekannt vor. Da ziehen offenkundig Reisekader hinter der CDU-Chefin her. Das Bild in der Zeitung und im Fernsehen ist ihnen sicher, unfreiwilliger Reklameeffekt inklusive.
Noch billiger zu haben ist das Spiel mit dem Skandal-Reflex. Dass schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, zählt seit den Anfängen zum journalistischen Geschäftsmodell. Wie man das nutzt, hat AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel gerade mustergültig vorgeführt. Weidel hatte die ZDF-Talkshow „Wie geht’s Deutschland“ kaum ostentativ verlassen, da verschickte AfD-Sprecher Christian Lüth schon eine Kritik an der Moderatorin Marietta Slomka.
Der Text wirkte vorbereitet, der Eklat geplant. Trotzdem berichten Online-Medien natürlich sofort, auch der Tagesspiegel geht auf den Fall ein. Am nächsten Tag stellt Weidel ein Video auf Facebook, ZDF-Chefredakteur Peter Frey verteidigt seine Moderatorin, Politiker melden sich zu Wort. Zwei Tage lang rangiert die Lappalie weit oben in der Berichterstattung. Es ist Teil des Dilemmas, dass auch dieser Text sie neu aufwärmt.
Für die AfD ist das ein Erfolg – nach dem schlichten, aber effektiven Motto: Es gibt keine schlechte Publicity. Provokationen, so hat das der Parteivorstand schon im vergangenen Jahr in einem Strategiepapier beschrieben, schaden der Protestpartei bei den eigenen Anhängern nicht.
Selbst die Nachricht, dass Frauke Petrys Immunität als Abgeordnete aufgehoben und der Weg zu einem Strafverfahren frei gemacht wurde, gibt in dieser Logik einen Aufmerksamkeitspunkt. Schädlich wäre nur, wenn die Truppe in Vergessenheit zu geraten drohte.
Noch besser läuft es für die Partei, wenn die anderen ihre Themen bedienen. Als sich vor vier Jahren Wolfgang Schäuble mitten im Wahlkampf verplapperte und über ein neues Griechenland-Hilfspaket sprach, sprang die eigentlich weit abgeschlagene Anti-Euro-Partei schlagartig um zwei Prozentpunkte nach oben.
Diesmal könnte das TV-Duell zum Schubverstärker werden. Merkel und Schulz wurden eine kleine Ewigkeit zum Thema Flüchtlinge befragt. Die einzige Nachricht des Abends war obendrein die abrupte Kehrtwende des SPD-Manns in der Türkeipolitik. In den Tagen danach beobachteten Demoskopen, wenig überraschend, dass beides auf das Wählerkonto der AfD einzahlte.
Manche haben die Gefahr gleich erkannt. Am Donnerstag verbreitet die „Bild“-Zeitung ein Interview mit FDP-Chef Christian Lindner mit der Überschrift: „Alle Flüchtlinge müssen zurück!“ Das hat Lindner zwar so platt gar nicht gesagt. Aber die grobe Schlagzeile wird ihm recht sein, ist doch das ganze Interview ein einziges Aufzeigen: Hallo, Protestwähler, hierher – hier findet noch einer Merkels Flüchtlingspolitik doof!
Ob das Manöver hilft, unzufriedene Unionsanhänger zu den Freidemokraten zu locken, ist nicht ausgemacht. Lindner steht schließlich im begründeten Verdacht, dass er Merkel nur zu gern zur vierten Kanzlerschaft verhelfen würde. Und dass der junge Mann mit dem offenen Hemdkragen dann der Kanzlerin die Richtlinien vorschreiben könnte, glaubt vermutlich auch nicht jeder.
Die AfD aber spielt wie nach Drehbuch weiter. Am Donnerstag sollte Weidel Talkgast bei Maybrit Illner sein. Wenige Stunden vorher sagt die AfD-Frau dem ZDF ab. Was sie in der Sendung zu Rente und Gesundheit zu sagen gehabt hätte, wäre vermutlich unbeachtet geblieben. Aber die Absage birgt die Chance zum nächsten Pseudo-Skandal.
Robert Birnbaum, Maria Fiedler