Gastbeitrag: Was Europa heute aus dem Dreißigjährigen Krieg lernen kann
Der Prager Fenstersturz vor 400 Jahren mahnt Europa zu mehr Zusammenarbeit, um sich gegen die Fliehkräfte zu stärken. Ein Gastkommentar.
In diesem Mai jährt sich zum 400. Mal der Prager Fenstersturz von 1618. Die Revolte der protestantischen böhmischen Stände gegen die katholischen Statthalter des Habsburger-Kaisers war Ausgangspunkt des Dreißigjährigen Krieges und damit auch Beginn eines jahrzehntelangen grausamen Leides, das gerade den Deutschen lange ein Trauma blieb. Wir Europäer erinnern uns daher lieber an 1648 als an 1618: Der Westfälische Frieden mit seiner Neuordnung Europas sollte endlich ein friedliches Miteinander durch einen Ausgleich der Interessen ermöglichen. Den Historikern gelten die dazugehörigen Friedenschlüsse von Münster und Osnabrück als Geburtsstunde des modernen Völkerrechts und Anfang einer neuen, auf das Recht gegründeten Machtbalance zwischen souveränen Staaten. Wenn man so will, ist die Europäische Union mit ihrer eingebauten Pflicht zu friedlichen und auf Ausgleich zielenden Kooperation die Vollendung dieses „Westfälischen Systems“ (Henry Kissinger).
Erschreckende Gemeinsamkeiten
Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir Europäer erfahren, dass die Welt „da draußen“ den chaotischen Kriegen nach 1618 stärker ähnelt als uns lieb sein kann. Die sogenannten neuen Kriege werden nicht mehr geführt, sondern schwelen vor sich hin. Die blutigen Konflikte von Libyen bis zum Jemen, von Syrien bis zur Sahel-Zone haben eine erschreckende Ähnlichkeit mit den Kriegen zwischen 1618 und 1648. Häufig sind dies, fast wie damals, Kriege mit wechselnden Koalitionen, mit Terroristen und Warlords, die im Gewand von Glaubenskriegern die Menschen ebenso zu mobilisieren wie zu missbrauchen wissen.
Europas Politiker erleben diese neuen Konflikte in verschiedener Gestalt, auch im eigenen Vorgarten, an der Schwelle zur EU: Migrationsbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten, Terroranschläge unter dem Vorwand fundamentaler Glaubensvorstellungen oder das fast tägliche Ringen um Antworten, auf die nächste geopolitische Provokation aus Ost oder West. Europa kann die Augen schließen, steht aber doch mittendrin in der weltweiten Unordnung aus Konflikten, Interessenspolitik und kollabierenden internationalen Rechtsnormen.
Die Europäische Union läuft dabei Gefahr, den Bedrohungen von außen mit unzulänglichen Mitteln zu begegnen, weil sie nach innen den Willen zur Gemeinsamkeit vernachlässigt. Während die USA sich auf 27 Waffensysteme stützen, leisten sich die Europäer aus lauter Partikularinteressen gleich 89 verschiedene Ausrüstungen. Doch die EU wird sich auf die militärischen Garantien der Amerikaner nicht uneingeschränkt verlassen können. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Recht, wenn sie sagt: „Die Welt wartet nicht auf uns.“
Macrons Ungeduld ist verständlich
Es geht aber nicht allein um Feuerkraft. Erforderlich ist vielmehr eine umfassende Strategie, die jenen Schutz stärkt, nach dem die Bürger zu Recht verlangen. Die EU benötigt eine gemeinsame Politik, die diesem Sicherheitsbedürfnis gerecht wird. Dazu gehören neben der fehlenden oder zersplitterten Hard Power oder den vereinten Mitteln der Diplomatie auch der Schutz der gemeinsamen Außengrenzen, eine bessere Steuerung der Migration und auch eine Partnerschaft mit Afrika. Insofern muss die EU ihre traditionellen Prinzipien – friedliche Konfliktlösung, Respekt zwischen Staaten auch in Spannungszeiten, militärische Gewalt nur als ultima ratio – keineswegs aufgeben. Aber sie wird diese Prinzipien verspielen, wenn sie sich nicht die nötigen Mittel an die Hand gibt, in der Konflikt- und Kriegswelt des 21. Jahrhunderts zu bestehen.
Das notwendige Instrumentarium dafür beschrieb die Globalstrategie der EU bereits 2016. Ende vergangenen Jahres haben 25 der 27 EU-Mitglieder dann mit der „strukturierten Zusammenarbeit“, der sogenannten Pesco, einen geeigneten Rahmen geschaffen. Dabei wurde allerdings vieles wiederholt, was bereits Ende der 90er Jahre nach den Jugoslawien-Kriegen, schon einmal gedacht und gefordert wurde. Das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Und es zeigt deutlich, dass es der Europäischen Union weniger an Einsicht mangelt, als am gemeinsamen Willen, ihre Erkenntnisse auch Wirklichkeit werden zu lassen. Verständlich ist daher die Ungeduld eines Präsidenten Macron, der im Herbst 2017 vor Studenten der Sorbonne eine ehrgeizige Frist setzte: „Bis zum Beginn des kommenden Jahrzehnts“ benötige Europa gemeinsame Eingreifkräfte, ein gemeinsames Verteidigungsbudget, eine gemeinsame Handlungsdoktrin.
Auf dem Gemeinsamen aufbauen
Eine gesamteuropäische Vision, die auf das Gemeinsam statt auf das Trennende aufbaut, ist wichtiger denn je. Gerade jetzt, da die Fliehkräfte innerhalb der Union stärker werden: austrittswillige Briten, europaskeptische Populisten oder solche EU-Mitglieder, denen Verträge und Werte lästig werden, verengen die Spielräume für ein gemeinschaftliches, europäisches Handeln.
Deshalb kann Europa nur im Zusammenspiel seiner Mitglieder einen erfolgreichen Kurs fahren. Wer in diesen Tagen die Europäer an den Prager Fenstersturz von 1618 und seine Folgen erinnert, wird sie zugleich mahnen müssen: Es bleiben uns wahrscheinlich keine 30 Jahre, die aktuellen Herausforderungen in ein System von Recht und Frieden zu überführen.
Der Niederländer Aart De Geus ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er stellvertretender Generalsekretär der OECD sowie Minister für Arbeit und Soziales in den Niederlanden.
Aart De Geus