Sicherheitspolitik: Warum Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss
Deutschland muss vom außen- und sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer zum Brückenbauer werden. Ein Essay.
Es war einer jener Momente in der Außen- und Sicherheitspolitik, auf die Wolfgang Ischingers bissige Charakterisierung Deutschlands als weltbester Trittbrettfahrer zutrifft: Erst erklärte die Bundeskanzlerin, warum Deutschland sich keinesfalls an einer britisch-französisch-amerikanischen Militäraktion in Syrien beteiligen würde, um dann nach dem Ende des Einsatzes den an ihm beteiligten Nato-Staaten die volle Solidarität der Bundesregierung zu versichern. Es war das Gegenteil von konsistenter Politik, und es widersprach auch den Grundsätzen deutscher Politik, wie sie Thomas Bagger, der langjährige Leiter des Planungstabes im Auswärtigen Amt, derzeit Leiter der außenpolitischen Abteilung im Bundespräsidialamt, einmal so zusammengefasst hat:
1. Nie wieder
2. Nie wieder allein
Nie wieder dürfe Deutschland einen Krieg beginnen – in welche Katastrophen die Negierung dieses Prinzips führt, haben zwei Weltkriege gezeigt. Heute ist das militärische Potenzial Deutschlands in ein Bündnis eingeflochten. Freilich hat Deutschland nach der Wiedervereinigung auch lernen müssen, dass die bequeme Außen-vor-Situation des geteilten Landes mit dem Ende dieser Teilung vorbei war. Im Krieg gegen den Irak nach dessen Besetzung Kuwaits hatte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 und 1991 durch einen zweistelligen Milliardenbetrag noch von der Entsendung deutscher Truppen an den Golf freikaufen können.
Schon im Balkankrieg musste rot-grün die deutsche Luftwaffe einsetzen
Aber schon im Balkankrieg waren es dann ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung mit einem grünen Außenminister, die die deutsche Luftwaffe an der Seite von Amerikanern, Engländern und Franzosen einsetzen musste. Der Satz, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf, hat eben auch diese Seite: Man muss die Wiederholung aktiv verhindern, wenn man die Macht dazu hat. Da führte dann Baggers "Nie wieder" nahtlos in die zweite Grundlehre deutscher Außen- und Sicherheitspolitik: Nie wieder allein heißt eben auch, nicht als wichtige Macht des Bündnisses abseits zu bleiben.
Im Rahmen des westlichen Verteidigungspaktes gibt es Situationen, die den Einsatz militärischer Mittel zwingend notwendig machen, lernten die – aus nachvollziehbaren historischen Gründen – inzwischen zum Pazifismus neigenden Deutschen.
Und damit sind wir wieder in Syrien, wo Deutschland am Ende auch deshalb nicht einmal logistische Unterstützung leistete, weil wir über keine Fähigkeiten verfügen, die hier gebraucht worden wären. So formulierte es Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Bundestagsausschusses, in schnörkelloser Klarheit. Man kann es auch so sagen: Die Hardware des deutschen Militärs ist so runtergespart, dass wir dankbar sein können, dass Putin nur in der Ukraine Grenzen austestet.
Aber wenn es nicht um bewaffnete Konflikte geht, sieht es ganz anders aus. Dann sind deutsche Politiker schnell und sehr pointiert verbal „an vorderster Front“. In der Außen-, der Europa-Politik und allen international relevanten Bereichen der Innenpolitik Alleingänge zu unterlassen, also auch hier das „Nie wieder allein“ zu respektieren, fällt der Bundesrepublik im gewachsenen Bewusstsein der eigenen wirtschaftlichen und politischen Kraft eher schwer. Die Aussetzung der Wehrpflicht durch den damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg war ein solcher Alleingang.
Bei der Öffnung der Grenzen für die über Ungarn und Österreich kommenden Flüchtlinge und auch beim Ausstieg aus der Kernenergie haben wir weder vorher noch nachher jemanden gefragt. Beides wirkte überheblich, war kurzsichtig und unüberlegt. Fast alles, was Deutschland tut und lässt, hat Auswirkungen auf seine Nachbarn.
Und nachgedacht hat die Bundesregierung auch lange nicht, als sie den Bau der zweiten direkten Erdgas-Pipeline von Russland durch die Ostsee befürwortete, ohne die verheerende psychologische Wirkung auf jene Staaten Ost-Mitteleuropas zu bedenken, die so umgangen wurden. Erst in diesen Tagen lässt die Bundeskanzlerin ein Umdenken erkennen.
Der "sanfte Hegemon" überschätzt sich gerne selbst
Wir waren und sind davon überzeugt, dass die Anderen von uns und nicht wir von ihnen lernen müssen. Verführt hat uns dazu auch der Begriff von Deutschland als dem „guten Hegemon“, der durch sanften Druck andere Staaten zu deren eigenem Glück auf den richtigen Weg weist. Dieses Idealbild der leisen, aber entschlossenen Führungsmacht, vom Historiker Herfried Münkler erstmals 2015 (vor der Massenflucht aus Syrien) beschrieben, bestärkte in der Politik eine Tendenz zu deutscher Selbstüberschätzung, denn die meisten europäischen Staaten erwarten von Deutschland zwar Entschlossenheit im Handeln, nicht aber Dominanz.
Das Zauberwort heißt Berechenbarkeit. Heißt, vor eigenem Handeln dessen mögliche Auswirkungen auf andere Länder, vor allem auf die kleineren, zu wägen. Helmut Kohl hat dieses Prinzip immer beherzigt. Er wusste genauso wie sein Langzeit-Außenminister Hans-Dietrich Genscher auch außerhalb der KSZE, was vertrauensbildende Maßnahmen sind.
Für Deutschland wurde Europa zum Ersatz für die staatliche Einheit
Im Rückblick ist die ganze Geschichte der Europäischen Union nichts anderes als ein Beleg dafür, wie aus historisch bedingten Zweifeln an den lauteren Absichten des Nachbarn erst Zuversicht, dann Vertrauen und schließlich gute Nachbarschaft, ja, manchmal auch Freundschaft wurden, weil alle begriffen, dass Demokratie, politische Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg nur in der Gemeinschaft zu erreichen sind. Für keinen aber galt das mehr als für Deutschland, die geteilte Nation, der Europa zum Ersatz für die unerreichbar scheinende staatliche Einheit wurde.
Als Gustav Heinemann, der erste sozialdemokratische Präsident der Bundesrepublik, gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, antwortete er: Ich liebe meine Frau. Weder in Frankreich noch in der Schweiz oder in Dänemark wäre eine solche Antwort möglich gewesen. Dolf Sternberger und Jürgen Habermas empfahlen uns hingegen den Verfassungspatriotismus als den einzigen für Deutschland erlaubten Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremden würde.
Dass nur die Hinwendung und eben nicht die Entfremdung vom Westen für das übergroße Deutschland der einzige gangbare Weg aus der europäische Isolation sei, hat uns Heinrich August Winkler in mittlerweile vier dicken Büchern erklärt. Aber der Historiker ahnte auch, dass das dem Westen zugewandte Europa in einer Ära von Populismus, Egoismus und Chauvinismus ein schlimmes Ende nehmen könne. Sein jüngster Buch zum Thema, das fünfte, im November 2017 erschienen, konfrontiert uns mit dem Besorgnis ausstrahlenden Untertitel "Zerbricht der Westen?" Die Belege für das, was Winkler so fürchtet, sind zahlreich.
Vertrauen zu Putin ist größer als zu Trump
In Deutschland ist nach Meinungsumfragen das Vertrauen zu Putin größer als das zu Trump, einem guten Verhältnis zu Russland wird höhere Bedeutung als den transatlantischen Bindungen an die USA gegeben. Rechte Parteien wie die AfD verstärken solche Strömungen, völkische Bewegungen wie Pegida drohen führenden deutschen Politikern den Galgen an, aus ihren Reihen wird die Bundeskanzlerin unflätig beleidigt.
Da ist Donald Trumps selbst und der durch sein Irrlichtern nicht mehr auszuschließende Bruch der europäisch-amerikanischen Allianz. Dann der Brexit, dessen Folgen noch unabsehbar sind. Schließlich das Aufkommen populistischer und sogar völkischer Strömungen in vielen Staaten Europas, jetzt gerade wieder in Ungarn. All das sind Erscheinungen, die uns mit der bis vor kurzen völlig undenkbaren Möglichkeit konfrontieren, das größte Friedensprojekt der europäischen Geschichte könne scheitern. Wird Europa die eigenen Erwartungen am Ende nicht mehr erfüllen, weil es sich übernommen hat?
Der Zusammenbruch des sowjetischen Reiches und der Fall der Mauern, die den Kontinent teilten, hatten eine beispiellose Euphorie ausgelöst. In einer kurzen Phase der Geschichte schien alles möglich. Aber dann geschah, was der britische und in den USA lehrende Historiker Paul Kennedy als „imperial overstretch“ beschrieben hat.
In seinem 1987 unter dem übersetzten Titel „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ erschienenen Buch entwickelte er die These, dass große Mächte sich bis zu einem Punkt ausdehnen, ihren Machtbereich so weit expandieren, dass sie die Kontrolle über die Randregionen verlieren. Der Overstretch, die Überdehnung, führt zum Zerreißen, zu einem Freisetzen von Kräften, die am Ende auch das einstige Zentrum der Macht erodieren lassen.
Die Zukunft gehört weiter dem Europa der Nationen
Wenn wir heute von der Möglichkeit eines Kerneuropa in Abgrenzung zur Europäischen Union sprechen, greifen wir die These ja indirekt schon auf. Die Überdehnung freilich geschah nicht aus Selbstüberschätzung. Sie war unausweichlich. Das macht ihre Tragik aus. Die beiden Nato-Osterweiterungen von 1999 und 2004 waren die sicherheitspolitische Vorbedingung für die drei Osterweiterungen der Europäischen Union in den Jahren 2004, 2007 und 2013.
Die autonom gewordenen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs hatten geradezu panische Angst vor einem Wiedererstarken der Vormacht in Moskau. Jede propagandistische und militärische Aktion von Wladimir Putin seitdem ist der schlagende Beweis für die Berechtigung dieser Ängste.
Staaten des "Ostblocks" empfanden sich nie als "Osten"
Dass der militärischen Integration in die Nato die wirtschaftliche in die Europäische Union mit der Verzögerung von einigen Jahren folgte, war der logische zweite Schritt. Hinzu kam ein psychologisches Moment. Die Staaten des so genannten Ostblocks haben sich nie als "Osten" empfunden. Vehement und völlig zurecht weisen sie heute eine solche Einordnung zurück. Prag ist seit dem Mittelalter ein Zentrum europäischen Geisteslebens mit der traditionsreichsten Universität Mitteleuropas. Krakau, Warschau und Budapest sind schon allein durch die Bindungen des Christen- und des Judentums immer nach Europa und niemals gen Osten orientiert gewesen.
Was die Europäische Union in ihrer Selbstverpflichtung zur Integration all dieser Staaten übersah, waren die Folgen von Jahrzehnten der Diktatur. Länder, die endlich, nach Jahrzehnten der Beherrschung durch eine andere Macht, wieder aus eigenem Gestaltungswillen handeln können, wollen sich nicht einer übergeordneten Instanz im fernen Brüssel fügen, und vor allem nicht dem, was Deutschland für richtig hält.
Dieses Europa ist in der Tat dem „imperial overstretch“ nicht nur nahe, es leidet bereits unter ihm. Das gilt aber nicht nur für jene Staaten, die durch die Osterweiterungen Mitglied der EU wurden. Tatsächlich gibt es in kaum einem Mitgliedsland Begeisterung für das supra-nationale Konstrukt, von dem die Kommission immer noch zu träumen scheint und in dem immer mehr Kompetenzen an eine Zentralgewalt in Brüssel delegiert würden. Auch wenn die gemeinsame Währung dringend eine weiter gehende Koordination der Wirtschaftspolitik erfordert – das Europa der Nationen, de Gaulle nannte es das Europa der Vaterländer, dürfte weit eher das Europa der Zukunft sein.
Das Europa der Vaterländer ließe mehr Individualität zu
Dieses Europa ließe eine größere Bandbreite der Individualität zu und wäre alleine dadurch viel leichter zusammen zu halten und weit weniger der Gefahr der Überdehnung ausgesetzt. Es wäre im großen Maßstab eine ähnliche staatliche Konstruktion wie das föderale Gebilde Bundesrepublik Deutschland. Das hat uns dank seiner – oft beklagten – Vielfalt Konflikte erspart, unter denen europäische Zentralstaaten so leiden.
Wenn es eine deutsche Rolle in dem Versuch gibt, diese Union zusammen zu halten, dann liegt sie in der dienenden Funktion als Brückenbauer zwischen dem alten und dem neuen Europa. Vor diesem Hintergrund ist das Weimarer Dreieck von Frankreich, Polen und Deutschland keine zufällige oder beiläufige Anleihe der Diplomatie bei der Geometrie, sondern die Beschreibung der historischen Verbindung dreier Völker und Nationen. Der französische Präsident Emmanuel Macron versucht zwar unverdrossen, europäische Aufbruchstimmung zu vermitteln, aber er konzentriert sich dabei zu stark auf die Euro-Zone.
Die deutsche Politik täte gut daran, das französische Drängen nach einer stärkeren finanziellen und wirtschaftlichen Verschränkung nicht nur einfach aus Angst vor dem Griff in die deutsche Kasse zu blockieren, sondern gleichzeitig den Blick Richtung Polen zu weiten. Das nähme der vor allem von der CSU und dem rechten CDU-Flügel verfochtenen Abwehrhaltung den Geruch des Egozentrischen. Die deutsche Angst, alle wollten „uns“ nur ans Geld, scheint stärker zu sein als jede Einsicht in die Notwendigkeit einer stärkeren Kooperation.
Dabei könnten diese drei Länder Deutschland, Frankreich und Polen gemeinsam die Kraft des Zusammenhalts entwickeln, eine Bindewirkung, die keiner von ihnen allein entfalten könnte. Thomas Baggers „Nie wieder allein“ hätte damit eine europäische Dimension bekommen. Und den wenig schmeichelhaften Ruf des Trittbrettfahrers wären wir auch los.