Herfried Münkler über Krieg und Geschichte: "Religion wirkt wie ein Brandbeschleuniger"
Das Trauma sitzt tief: Der Politologe Herfried Münkler über sein neues Buch, den Dreißigjährigen Krieg und den Terror von heute.
Herr Münkler, Ihr neues Buch hat den Titel „Der Dreißigjährige Krieg: Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“. Der Dreißigjährige Krieg begann vor 400 Jahren. Warum müssen wir uns heute noch dafür interessieren?
Weil er ein tiefer Einschnitt in die deutsche Geschichte war und ihren weiteren Verlauf geprägt hat. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde der drohende Krieg als eine Austragung der europäischen Konflikte auf deutschem Boden gedeutet. Er diente als Begründung dafür, eine prinzipiell offensive Kriegsführung zu planen, mit entsprechenden Folgen. Damals haben die Deutschen aus der Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg wohl das Falsche gelernt. Heute haben wir eher das Problem, dass wir mit dem Ende der Zeit, in der die Staaten die Monopolisten des Kriegs waren, eine Wiederkehr der „unordentlichen“ Form des Kriegs erleben. Wie in einem fernen Spiegel können wir etwas für die Gegenwart lernen.
Der Krieg begann 1618 mit dem Prager Fenstersturz, bei dem drei kaiserliche Beamte in den Schlossgraben geworfen wurden, ohne zu sterben. Ein banaler Anlass?
Es gibt ein paar Faktoren, die dazu führten, dass der Fenstersturz zur Zündschnur des Großen Krieges wurde. Einer war, dass der neue böhmische König und spätere Kaiser Ferdinand II. die Macht der Landstände brechen wollte. Außerdem versuchte er, den Protestantismus zurückzudrängen. Das hätte alles keine Rolle gespielt, hätte Ferdinand nicht auf spanisches Geld zurückgreifen können. Er nutze die sich ihm durch den Fenstersturz bietende Chance, die rebellierenden Böhmen zu besiegen und zu demütigen. Weil das spanische Geld aber nicht reichte, hatte Ferdinand den Kopf der Katholischen Liga, Herzog Maximilian von Bayern, in seine Koalition geholt. So war dieser Krieg von Anfang an ein europäischer , auch wenn er auf deutschem Boden ausgetragen wurde. Eine These meines Buches ist, dass er dazu nicht erst, wie oft behauptet, in seiner zweiten Hälfte wurde.
Über die beiden Weltkriege ist gesagt worden, dass sich darin die Ideologien des 19. Jahrhunderts ausagierten, Nationalismus, Kommunismus, Faschismus. Gilt Ähnliches für den Dreißigjährigen Krieg, der auf die Reformation folgte?
Man kann das so sehen. Schillers große Darstellung des Kriegs geht davon aus, dass man zur Reformation zurückgehen muss, um ihn zu verstehen. So beginnt auch sein Buch. Schiller stellt die ideologischen Konfliktlinien in den Vordergrund, was eine gewisse Determinationssuggestion zur Folge hat. Er sieht gewissermaßen zwei Züge, die aufeinander zurasen. Irgendwann muss es krachen.
Auch Glaubensbrüder kämpften gegeneinander, etwa der katholische König von Frankreich gegen den römisch-deutschen Kaiser. War es ein Religionskrieg?
Auch. Aber man liegt falsch, wenn man ihn wesentlich als Religions- und Konfessionskrieg beschreibt. Wer leitete die französische Politik? Ein Kardinal der katholischen Kirche. Einige Päpste waren überhaupt nicht erbaut davon, dass Spanien und das Haus Habsburg im Verlauf des Kriegs so stark wurden. Sie sahen den Kirchenstaat dadurch eingeschnürt. Die konfessionelle Dimension war immer eingemischt, aber nie ausschließlich. So wie wir auch in Syrien und im Irak sagen müssen, dass der Streit zwischen Sunniten und Schiiten dazugehört, aber allein aus ihm heraus die Dynamik des Konflikts nicht zu erklären ist. Religion fungiert als Brandbeschleuniger für hegemoniale Konflikte. Und diese Konflikte schaffen wiederum die Möglichkeit, die religiösen Konflikte in äußerster Härte auszutragen. Der Dreißigjährige Krieg führte erstmals zu Flüchtlingsströmen, die nicht mehr nur die Vertreibung von kleinen politischen Eliten waren. Mindestens ein Zehntel der böhmischen Bevölkerung musste aus Glaubensgründen Böhmen verlassen. Das war neu. Ansonsten galt bis zum Ersten Weltkrieg die Faustregel: Man flieht nicht, sondern nimmt hin.
Neu war, dass neben dem großen Krieg der Heere stets ein kleiner Krieg der Bauernaufstände und Landsknechte mitlief. Warum hat er sich so tief ins Kollektivgedächtnis eingeprägt?
Im Buch stelle ich das Gedankenexperiment an, was wohl passiert wäre, wenn der französische König Heinrich IV. 1610 nicht auf dem Weg zum Heer von einem Fanatiker ermordet worden wäre. Meine retrospektive Prognose: Dann wäre es wohl schon bald danach zum großen Territorialkampf gekommen, vielleicht hätten einige wenige Schlachten über den Krieg entschieden. Aber weil Frankreich sich nach 1618 zunächst lange zurückhielt, wurde es ein Krieg, in dem die Parteien – daneben noch Spanien, Dänemark, Schweden – erst sukzessive eingriffen. Das führte zu der Ausdehnung des Kriegs und zur Erschöpfung des Landes. Zwischen 1630 und 1635 fanden große Schlachten statt, die den Krieg aber nicht entschieden.
Danach ging der Krieg doch noch lange weiter?
Er wurde weitergeführt als ein Krieg der Söldner gegen die Bauern. Die Bauern begannen irgendwann, sich gegen die ständigen Angriffe zu wehren. So kam die Dimension der Kleinkriegsführung dazu. Dabei entsteht immer eine besondere Form der Grausamkeit, weil alle Regulationssysteme wegfallen, genauso wie das explosionsartige Entladen der Gewaltpotenziale in der Schlacht an einem Tag wegfällt. So brennt das Pulver sozusagen ganz langsam ab, der Schrecken gräbt sich tiefer in die Vorstellungen der Leute ein.
Ist jedes Opfernarrativ schon eine Zündschnur, aktuell etwa im Konflikt zwischen Barcelona und Madrid?
In der Welt existieren viele Zündschnüre, aber zum Glück werden nicht alle angesteckt. Dazu braucht es bestimmte Umstände. Wenn wir uns die jugoslawischen Zerfallskriege der neunziger Jahre oder jetzt eine Reihe von Kriegen im Nahen Osten anschauen, dann spielen solche Opfervorstellungen immer eine zentrale Rolle, eben weil sie eine Legitimation für aggressives Agieren abgeben. Sie werden über Erzählungen oder Gedichte vererbt, weitergetragen von Historikern. Opfererzählungen haben häufig eine Lizenzfunktion für forcierte Gewalt und Grausamkeit.
Im Westfälischen Frieden wurden 1648 Kombattanten und Nichtkombattanten getrennt, die Staaten bekamen das Gewaltmonopol. Dieser Gedanke ging in die Haager Landkriegsordnung ein. Können wir uns darauf heute noch berufen?
Die Frage ist, was heißt „heute“? Mit der UN-Charta sind wir eigentlich aus der Epoche der Lizenz heraus, dass souveräne Staaten das Recht zur Kriegserklärung haben. Sie sind grundsätzlich völkerrechtswidrig. Gleichzeitig wünschen wir uns zurück, dass nur souveräne Staaten Krieg erklären dürfen – weil wir nämlich in einer Zeit leben, in der so viele nichtstaatliche Akteure Kriege lostreten, von Al Qaida bis zum IS, aber auch von den Kriegs-AGs der Söldnerunternehmen bis hin zu verdeckten Geheimdienstoperationen. Das ist eine Rückkehr der kleinen Kriege, wie ich sie im Buch beschreibe. Frank-Walter Steinmeier hat noch als Außenminister einen „neuen Westfälischen Frieden für den Nahen Osten“ gefordert. Da muss man dazu sagen: Das wäre kein Frieden in dem Sinne, dass kein Krieg mehr ist, sondern dass Krieg und Nicht-Krieg präzise unterscheidbar wären. Schließlich sind im Dreißigjährigen Krieg viele Kämpfe ohne Kriegserklärung geführt worden. Der Kaiser sagte am Anfang: Das ist doch ein Aufstand, kein Krieg. Im Augenblick fallen wir wieder hinter die Standards des Westfälischen Friedens zurück, die Trennlinien sind weg.
Ist es nicht reichlich eurozentrisch, die Konflikte im Nahen Osten mit den Lehren des Dreißigjährigen Kriegs beenden zu wollen?
Eurozentrisch, da gebe ich Ihnen Recht. Hilfreich für die Beendigung dieser Kriege wäre es sicher, wenn eine Ordnung entstehen würde mit der Bedingung, dass die Staaten wieder zu Monopolisten des Kriegs werden. Das würde bedeuten: Ausschalten von Boko Haram in Nigeria und den umliegenden Staaten, der Al Schabaab in Somalia, des IS und anderer nicht territorial gebundener Kriegsparteien. Eine Parallele des Dreißigjährigen Krieges zur Gegenwart ist das Hervortreten von Söldnerfiguren, die aus dem Krieg ein Geschäftsmodell machen.
Sie vergleichen die unübersichtlichen Konflikte im Nahen Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg. Aber mit dem Fall von Kirkuk kollabierte das sogenannte Kalifat. Ist der IS besiegt?
Als territorialisierter Akteur, der ein größeres Gebiet von Ostsyrien bis weit ins Zweistromland beherrschte, wird er vorerst nicht mehr da sein. Aber der IS ist eine Organisation, die chamäleonartig auftritt. Er kann woanders erneut ein Territorium erobern, in Libyen unternimmt er bereits Versuche. Gleichzeitig kann er als Netzwerkorganisation in der Tiefe des sozialen Raums verschwinden und hier und da und dort Terroranschläge verüben. Der Schrecken ist nicht vorbei, er ändert nur sein Gesicht.
Das Gespräch führte Christian Schröder. Herfried Münkler lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Sein Buch über den Dreißigjährigen Krieg ist bei Rowohlt Berlin erschienen. 976 Seiten, 39,95 €.