Ein Land in Aufruhr: Was die Proteste im Libanon so besonders macht
Die Demonstrationen im Libanon gehen in die vierte Woche. Noch ist kein Ende der friedlichen Revolution in Sicht.
Es ist weit nach Mitternacht auf Beiruts Ringroad, dem Pendant zur Berliner Stadtautobahn, als eine junge Frau beginnt, mit einem Besen den Dreck der vergangenen Stunden wegzukehren. Seit dem frühen Abend haben sich Protestierende und Sicherheitskräfte mal wieder ein Katz-und-Maus-Spiel geliefert.
Demonstranten blockieren eine der wichtigsten Verkehrsadern der libanesischen Hauptstadt. Nach einer Stunde schreitet die Polizei ein, räumt die Blockade und verhaftet einige Blockierer. Doch ein paar Minuten später ist die Straße wieder besetzt.
Etwas ungläubig stehen die Sicherheitskräfte vor dem erneuten Pulk auf der Ringroad und entschließen sich letztlich kommentarlos abzuziehen. Eben in diesem Moment beginnt die junge Frau zu fegen, um sich vom entstandenen Dreck der letzten Stunden zu lösen.
Ein Sinnbild für die seit mittlerweile über fast drei Wochen andauernden Massenproteste im Libanon.
Jeden Tag auf die Straße
Nur geht es hier nicht um den Dreck des Abends, wie achtlos auf den Boden geschmissene Zigarettenkippen. Sondern um den von der Regierung verursachten Dreck der vergangenen dreißig Jahre, gegen den zum Beispiel die Filmstudentin Roua Sleem jeden Tag auf die Straße geht.
Tatsächlich bezeichnet sie die libanesische Politik der letzten Jahrzehnte als „Dreck“. Seit Beginn der Massenproteste am 17. Oktober ist die 21-jährige jeden Tag auf der Straße, um gegen die Politik der verhassten Machtelite zu demonstrieren: „Ich möchte einfach nur in einem Land leben, in dem die Politik uns nicht bestiehlt. Wir haben jemanden verdient, der nicht nur so tut, als ob er sich um uns kümmert.“
Wachsende Korruption, Vetternwirtschaft, soziale Ungerechtigkeit und nicht zuletzt das besondere libanesische Politiksystem – geprägt von Postenverteilung nach religiösem Proporz – sind nur einige der vielen Gründe, die dafür sorgen dass sich die Wut hunderttausender Libanesen und Libanesinnen gegen ihre Regierung auf den Straßen des Landes entlädt.
So wurde zwar die Hauptforderung der Demonstranten - mit dem Rücktritt der Regierung von Premierminister Saad Hariri vor circa zwei Wochen - schon erfüllt, die Proteste gehen jedoch uneingeschränkt weiter. Der 84-jährige Präsident Michel Aoun ist nach wie vor mit der Bildung einer Übergangsregierung beschäftigt, viele bezweifeln, dass sich diese signifikant vom jetzigen Kabinett unterscheiden wird.
Auch die vom Großteil der Libanesen geforderte Offenlegung der Konten aller Parlamentsabgeordneten, zwecks Korruptionsverfolgung, geht nur schrittweise voran. Etliche Mitglieder der Volksvertretung verweigern sich der öffentlichen Einsicht in ihre Geldströme.
Mittlerweile werden die täglichen Demonstrationen vor allem von der jungen Generation dominiert. Während die meisten Straßen wieder passierbar ist, bleiben viele Bildungseinrichtungen durch streikende Schüler und Studierende geschlossen. Ein Großteil der Bevölkerung wünscht sich eine sogenannte "Technokraten-Regierung", ein Kabinett bestehend aus Experten und Expertinnen für die jeweiligen Ministerialressorts.
Wer diese Spezialisten auswählen und bestimmen soll, ist unklar. An sich wäre das Aufgabe des Präsidenten Aoun, dieser wird aber von vielen Libanesen und Libanesinnen genauso abgelehnt und zum Rücktritt aufgefordert, wie der überwiegende Rest der politischen Elite des Landes.
Die junge Generation protestiert gegen die alten Machtstrukturen
Die Menschen im Libanon sind nicht allein in ihrer Empörung über die politische Elite. Der Irak erlebt eine ähnliche Protestwelle, die allein schon in ihrer Größenordnung und Intensität mit den mittlerweile von vielen als „Oktoberrevolution“ bezeichneten Massenkundgebungen im Libanon vergleichbar ist.
In Bagdad begannen die Proteste Anfang Oktober und richten sich ähnlich wie im Libanon, gegen die weit verbreitete Korruption, die Perspektivlosigkeit der jungen Generation und generelle soziale Ungerechtigkeit.
Während die Demonstrationen im Libanon bis auf einige Zusammenstöße zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften zu Beginn der „Oktoberrevolution“, sowie kleinere Scharmützel, die Sympathisanten der schiitischen Parteien Amal und Hisbollah zugerechnet werden, bemerkenswert friedlich blieben, berichten Medien von mehr als 270 Toten im Irak seit dem Ausbruch der Massenproteste.
Die meisten Opfer gehen auf das Konto von schiitischen Milizen. Die durch Teheran bewaffneten Auslandskräfte der berüchtigten iranischen Revolutionsgarde sollen durch gezielte Kopfschüsse friedliche irakische Demonstranten regelrecht hingerichtet haben.
Für Jannis Grimm, Protestforscher am Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) sind die Parallelen zwischen den derzeitigen Aufständen im Irak und Libanon und dem Arabischen Frühling von 2011 offensichtlich.
„Sie äußern sich einerseits in den Ausdrucksformen von politischem Dissens, also in der Reproduktion erprobter Taktiken und Protestrepertoires wie Platzbesetzungen, Menschenketten und Sternmärschen. Andererseits ist auch die Teilnehmermasse und Struktur der Protestallianzen ähnlich heterogen: Wie bereits 2011 haben die Proteste größtenteils keine klar erkennbaren Anführer und Anführerinnen. Das macht sie schwerer zu kooptieren“, so Grimm.
Selbst die Protestslogans seien in diesem Herbst 2019 teilweise wieder zum Leben erweckte Parolen von 2011. So wurde beispielsweise „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ schon vor acht Jahren auf dem Tahir-Platz in Kairo von der Masse gefordert. Auch seien die Proteste schon auf andere arabische Staaten übergeschwappt, die jedoch weniger im Fokus der Medien stehen, so Grimm. So wird in Algerien schon seit Beginn des Jahres gegen den langjährigen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika demonstriert.
Mit Erfolg. Im April verkündete er seinen Rücktritt. Im Oktober sind die Proteste auf die Straßen Algiers zurückgekehrt. Der Widerstand gegen die zunehmend repressiv agierende Staats- und Militärführung wächst. Die Demonstranten befürchten außerdem eine Manipulation der anstehenden Wahlen.
Europa sollte moderieren
Der Protestforscher empfiehlt Europa, genau hinzusehen, was in der arabischen Welt gerade vor sich geht: „Der Westen reagiert bisher sehr zurückhaltend.“ Angesichts der ernüchternden Bilanz des ,ersten’ Arabischen Frühlings, sei der Enthusiasmus hierzulande gebremst.
„Allerdings wäre es sinnvoll, den aktuellen Mobilisierungsmoment als eine zweite Chance für Europa zu bezeichnen: Algerien ist nicht Ägypten, der Libanon ist nicht Libyen. Dass die Massenproteste in Bürgerkrieg oder Repressionen enden, ist keine ausgemachte Sache.“ Umso mehr sollten Entscheidungsträger in Europa moderierend auf Machthaber in der Region einwirken, meint Grimm, und das unmissverständliche Signal senden, dass man eine Unterdrückung der legitimen Meinungsäußerung der Menschen in Libanon oder dem Irak nicht einfach akzeptieren werde.
"Die arabische Welt ist heterogener als viele glauben"
Habib Battah, Reporter bei Al-Jazeera und Gründer des Blogs beirutreport.com, hält die Vergleiche zwischen den derzeitigen Protesten in der arabischen Welt und der Arabellion von 2011 dagegen für falsch: „Es ist ein großer Fehler, die arabische Welt zu generalisieren.
Dass was wir gerade im Libanon und Irak erleben, passiert überall auf der Welt. Wir müssen unseren Blick nur nach Hongkong oder Chile richten.“ Trotz der Gemeinsamkeiten der Proteste in Nahost, wie etwa der Kampf gegen Korruption und die verfestigten Machtstrukturen, sei Beirut nicht Bagdad, so Battah. „Der Libanon war nie ein Land, in dem das one-man one-rule-Prinzip herrschte. Auch hatten wir hier immer eine große Parteienvielfalt, ganz anders als im Irak. Man kann das nicht miteinander vergleichen. Die arabische Welt ist heterogener als viele glauben“
Filmstudentin Roua auf Beiruts Ringroad ist es herzlich egal, ob die Blockaden um sie herum nun zum Arabischen Frühling 2.0 zählen oder nicht. Ihr geht es um die Erfüllung ihrer Forderungen. „Die Revolution ist das beste was dem Libanon seit Ewigkeiten passiert ist. Wir haben das gebraucht. Wir werden auf der Straße bleiben, bis unsere Politiker müde werden. Auch wenn das lange dauert.“
Julius Geiler