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Auch in Sidon wird der Rücktritt der Regierung gefeiert.
© Mahmoud Zayyat/AFP

„Wir haben keine Angst mehr“: Hariri geht, doch die Demonstranten im Libanon bleiben

Mit dem Rücktritt Hariris zerfällt die gesamte Regierung. Kurz zuvor attackieren Hisbollah-Unterstützer Demonstranten in Beirut. Die geben sich furchtlos.

Es schien so, als wäre die libanesische Revolution in den vergangenen Tagen etwas müde geworden. Weniger Menschen als zuvor strömten Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die zentralen Plätze des Landes, um gegen die reformverschleppende Politik der Regierung Hariri, wuchernde Korruption und die desaströse Wirtschaftssituation im Libanon zu protestieren. Der Ausnahmezustand wurde zum Normalzustand. So richtig bewegte sich nichts.

Auf die Hauptforderung der friedlichen Protestierenden, den Rücktritt der gesamten Regierung, reagierte die Politik mit einem Fingerzeig auf die - bereits vergangene Woche - verkündeten Reformen. Diese sahen unter anderem eine stärkere Korruptionsbekämpfung, die Privatisierung des Energie- und Telekommunikationssektors sowie die höhere Besteuerung von Banken und Unternehmen vor. Den meisten Libanesen ging das nicht weit genug und so blieben die Straßen weiter blockiert, Geschäfte versperrt, Schulen und Universitäten geschlossen.

An diesem Dienstag überschlagen sich dann die Ereignisse. Schon am Vormittag berichtet der libanesische TV-Sender „Al-Jadeed“ von einem möglichen Rücktritt Hariris und beruft sich dabei auf Regierungskreise. Um 16 Uhr lokaler Zeit tritt Saad Hariri dann vor die Fernsehkameras und verkündet der Nation den Rücktritt seiner gesamten Regierung.

Auch er selbst werde bei Präsident Michel Aoun ein Rücktrittsgesuch einreichen, sagt Hariri. Er habe eine Sackgasse erreicht, nachdem er lange versucht habe, einen Ausweg aus der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation des Landes zu finden, sagte der Regierungschef. „Politische Posten kommen und gehen. Die Würde des Landes ist jedoch jetzt wichtiger“ und weiter: „Niemand ist größer als sein eigenes Land“.

Saad Hairiri nach seiner Rücktrittserklärung am Dienstag.
Saad Hairiri nach seiner Rücktrittserklärung am Dienstag.
© Marwan Tahtah/AFP

Damit ist die Hauptforderung der Demonstranten erfüllt. Die Stadtautobahn der Hauptstadt wird wie hunderte andere Verkehrsschwerpunkte im ganzen Land seit Beginn der Proteste durch vor allem junge Demonstranten für den Autoverkehr blockiert. Als sich an eine der größten Blockaden, zwischen den Stadteilen Hamra und Ashrafie, die Nachricht vom Rücktritt des Kabinetts verbreitet, bricht Jubel aus.

Für den 23-jährigen Ahmad, der aus einem Vorort Beiruts stammt, ist die Rücktritts-Ankündigung ein wichtiges Zeichen dafür, dass das libanesische Volk etwas bewegen kann. Trotzdem warnt er davor, sich darauf auszuruhen: „Das ist nur der erste Schritt. Alle Menschen in diesem Land, die das libanesische Volk in den vergangen 30 Jahren betrogen haben, müssen Hariri folgen und gehen.“ Gemeint sei fast die gesamte libanesische Politikelite, so Ahmad.

Seit dem 17. Oktober gingen hunderttausende Libanesen und Libanesinnen auf die Straße, um gegen Misswirtschaft, Korruption und die prekäre ökonomische Situation im Mittelmeerstaat zu demonstrieren. Mit Straßenblockaden und generalstreikähnlichen Protestaktionen versetzen sie das ganze Land in eine Art Wachkoma. So gewalttätig die ersten Protesttage durch Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden verliefen, so friedlich waren die Folgetage.

Trotz Partystimmung sind die Forderungen revolutionär

Da wo noch wenige Tage zuvor, mit Tränengas und Gummigeschosse auf Demonstrierende gefeuert wurde, stieg Feuerwerk in den lauwarmen Beiruter Nachthimmel. Trotz der guten Stimmung konnte die Partyatmosphäre  nie darüber hinwegtäuschen, worum es eigentlich ging: Den  Sturz der Regierung. Immer wieder hallte der arabische Begriff „Thawra“ für „Revolution“ durch die Straßen des Landes.

Der kleine Libanon kämpft mittlerweile seit Jahren mit einer schweren Wirtschaftskrise. Mit einer Staatsverschuldung von 86 Milliarden US-Dollar und einer Schuldenquote von 150 Prozent gehört der Staat zu den Ländern mit der höchsten Schuldenquote weltweit - nicht weit entfernt von der Staatsverschuldung Venezuelas.

Semestergebühren liegen bei vielen tausend Dollar

Der Strom -und Telekommunikationssektor befindet sich komplett in staatlicher Hand. Die Folge sind tägliche Stromausfälle und horrende Mobilfunkpreise. Ein öffentlicher Nahverkehr ist de facto nicht vorhanden. Bis auf einige wenige Busverbindungen, deren Liniennetz selbst für Libanesen undurchschaubar scheint, werden die meisten Strecken mit dem eigenen Auto, Taxi oder Uber zurückgelegt. Chronisch verstopfte Straßen sind das Ergebnis.

Die Bildungskosten sind unvorstellbar hoch. Semestergebühren für die Universitäten des Landes beginnen bei 11.000 US-Dollar im Monat, können aber je nach Uni und Studiengang auch mal bis zu 25.000 US-Dollar monatlich betragen. Am 17. Oktober trieb es die Libanesen das erste Mal auf die Straße. Muslime, Seite an Seite mit Christen und Drusen. Alte und Junge, Hisbollah-Wähler und ehemalige Unterstützer des Premierministers Saad Hariri. Über allem dominierte die libanesische Flagge, keine Parteifahnen. Das erste Mal seit langem, so schien es, war der multireligiöse Libanon in seiner Wut gegen das politische System vereint.

Die Banken sind seit elf Tagen geschlossen

Völlig unklar ist, wie es jetzt weitergeht. Das Land steht, auch wegen des zweiwöchigen, durch die Proteste herbeigeführten Stillstands, kurz vor dem finanziellen Kollaps. Die libanesischen Banken sind seit elf Tagen durchgehend geschlossen, vor allem aus Angst vor einem Run auf die Parallelwährung US-Dollar, der normalerweise in einem festen Kurs zum Libanesischen Pound steht.

Seit einigen Monaten ist der Kurs starken Schwankungen ausgesetzt. Infolgedessen verliert der Libanesische Pound konstant an Wert, erste Unternehmen akzeptieren nur noch US-Dollar. In den vergangenen zwei Tagen stiegen die Preise für ausländische Lebensmittel in vielen Supermärkten. Am Montag verkündete der Direktor der Libanesischen Zentralbank Riad Salame gegenüber CNN, dass das Land nur wenige Tage von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch entfernt sei. Später dementierte Salame, die Sorge vor dem Kollaps ist dennoch ungebrochen.

Wie wird die Hisbollah reagieren?

Auch politisch herrscht Ungewissheit. Wann wird es Wahlen geben, wie wird eine mögliche Übergangsregierung aussehen und vor allem wie reagiert die Hisbollah auf das Ende der Regierung Hariri?

Einen möglichen Vorgeschmack lieferte der Dienstag. Wie bereits am vergangenen Freitag tauchten mittags im Zentrums Beiruts plötzlich hunderte, schwarzgekleidete Männer auf, die den schiitischen Parteien Hisbollah und Amal zugerechnet werden. Die Hisbollah wird in Europa als Terrororganisation geführt, gehört trotz ihres bewaffneten Arms im Libanon aber zum festen politischen Etablissement und war Teil der Regierung Hariri.  Die mit Knüppeln bewaffneten Hisbollah-Unterstützer griffen friedliche Demonstranten in Downtown-Beirut an. Zeltlager der Protestbewegung wurden in Brand gesetzt, Journalisten und Protestierende attackiert. Anders als bisher griffen die Sicherheitskräfte nur sehr verhalten ein.

Zelte der Demonstranten in Beirut stehen in Flammen.
Zelte der Demonstranten in Beirut stehen in Flammen.
© AFP

Der 34-jährige Alaa Katergi schläft seit der zweiten Nacht der Proteste mit hunderten anderen Unterstützern auf dem zentralen Beiruter Märtyrerplatz, um zu verhindern, dass die Polizei den Platz nachts dem Verkehr freigibt. „Urplötzlich stürmten hunderte Schläger den Platz und zerstören das ganze Lager. Die anwesenden Polizisten und Soldaten sind nicht dazwischen gegangen. Es schien so, als hätten sie keinen Befehl“. Nach Alaas Angaben riefen die Schlägertrupps: „Nasrallah, wir beschützen Dich!“.

Hassan Nasrallah, Hisbollah-Generalsekretär, verkündete in einer einstündigen Fernsehansprache am vergangenen Freitag, dass er die Massenproteste zwar akzeptiere, aber niemals einen Rücktritt der Regierung unterstützen werde. Außerdem beschuldigte er die Protestbewegung, unter ausländischem Einfluss zu stehen und warnte vor einem politischen Vakuum im Land, welches schlimmstenfalls in einem Bürgerkrieg enden könnte.

Nach der Ankündigung strömen die Menschen in die Innenstadt

Man kann die Hisbollah-Attacken an diesem Dienstagmittag, wenige Stunden vor Hariris Rücktrittserklärung, als ein letztes Aufbäumen gegen den friedlichen Massenprotest verstehen. Andere sehen darin eine Kriegserklärung Nasrallahs, der nun gegen alle vorgeht, die ihm und seiner Partei nicht wohlgesonnen sind.

Wenige Minuten nach Hariris Rücktrittsrede strömen die ersten Menschen wieder Richtung Downtown. Geschmückt mit libanesischen Flaggen wollen sie den Erfolg ihrer wichtigsten Forderung feiern. Unter ihnen ist auch die 21-jährige Studentin Amani: „Wir haben keine Angst mehr. Nicht vor Hisbollah, nicht vor irgendjemandem. Die einzige Angst, die wir haben, ist die Angst vor unserer Zukunft, weil es die Regierung 30 Jahre nicht geschafft hat, Perspektiven zu erschaffen.“

Julius Geiler

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