Fünf Jahre Arabischer Frühling: Aufbruch, Umbruch, Abbruch
Vor fünf Jahren begann in Nordafrika und im Nahen Osten der sogenannte Arabische Frühling. Wie wird sich die Krisenregion entwickeln? Fünf Szenarien für fünf Länder.
Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Willkür der Behörden auf einem Marktplatz in Tunesien. Es war der Auslöser für einen unvergleichlichen Aufstand in der arabischen Welt. Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit forderten die Protestler. Es folgten Unruhen, Massenproteste und brutale Repression. Aber auch freie Wahlen und ein Aufbegehren der jungen Generationen. Doch was ist geblieben? Das einstige Vorzeigeland Tunesien wird zunehmend fragiler, jeder Anschlag erschüttert die Stabilität. Bei den Nachbarstaaten sieht es von Ausnahmen abgesehen kaum besser aus.
Marokko: Anker der Stabilität
Das Königreich gilt als stabilstes Land in der Region. Der arabische Frühling hat dem vom Herrscherhaus angestoßenen Demokratisierungsprozess Schwung gegeben: Langsam, aber sicher ziehen sich König Mohammed VI. und seine Familie aus der aktiven Politik zurück. Zwar wird die Regierung durch Gefolgsleute des Königs kontrolliert, Pressefreiheit gibt es nicht konsequent, auch in Fragen der sozialen Gerechtigkeit hinkt das Land hinterher. Doch 2015 gab es freie Wahlen. Das Land könnte somit die erste stabile Demokratie im nordafrikanischen Raum werden – vorausgesetzt, die Lage in den Nachbarländern beruhigt sich.
„Noch immer fürchten sich viele Leute vor islamistischen Anschlägen“, sagt Abderrahman Tlemçani, Koordinator der Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko. Ein Übergreifen des libyschen Krieges beispielsweise oder ein Zusammenbruch Algeriens würden das Land auch in Mitleidenschaft ziehen, die momentan gut entwickelte Wirtschaft abwürgen und Investoren wie Touristen abschrecken. Innenpolitisch kann das Königreich im Kampf gegen Instabilität und Terror durchaus Fortschritte verzeichnen.
Bereits 2011 rief König Mohammed VI. zur Offensive gegen die sich ausbreitenden radikalen Islamisten. Mit einigem Erfolg. Seit 2011 gab es nur einen Anschlag. Helmut Reifeld, Landesbeauftragter für Marokko der Konrad-Adenauer-Stiftung, urteilt: „Das Land ist auf einem sehr guten Weg und wird – soweit es keine Rückschläge gibt – einer der wichtigsten europäischen Partner in den nächsten Jahren sein.“
Algerien: Soziales Pulverfass
Einen wirklichen Frühling hat es in Algerien nie gegeben. Mit Blick auf den blutigen Bürgerkrieg in den 90er Jahren scheuten viele die erneute Auseinandersetzung, hatten Angst vor dem nachfolgenden Chaos. Einzelne Proteste wurden zudem von der Militärdiktatur niedergeschlagen. „Doch soziale Spannungen werden seitdem immer offensichtlicher“, erklärt Merin Abbas, Algerien-Experte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen steigt, auch weil der Preis für Öl – Algeriens Haupteinnahmequelle – fällt. Sollte der Staat die noch großzügigen Geschenke an die Bevölkerung nicht mehr finanzieren können, wird das die inneren Spannungen zusätzlich erhöhen. Noch steht mit Abd al Aziz Bouteflika ein respektierter Herrscher an der Spitze, der dem Land Stabilität verleiht. Doch Bouteflika ist 78 Jahre alt und todkrank. Stirbt er, könnte das der Auslöser für eine Revolution sein oder einen Bürgerkrieg. Militante islamistische Gruppen könnten erneut versuchen, an die Macht zu gelangen.
Das Militär wird wiederum seine Vormachtstellung verteidigen unbedingt wollen. Eine Situation, die viele Algerier an den schrecklichen Bürgerkrieg erinnert, der ab 1991 das Land erschütterte. Käme es so, wäre es für die gesamte Region brandgefährlich. Denn die Grenzen zu instabilen Staaten wie Libyen und Mali könnten nicht mehr ausreichend gesichert werden. Es drohte ein rechtsfreier Korridor von Zentralafrika bis an die Mittelmeerküste.
Libyen: Der IS-Faktor
Ein Friedensabkommen macht Hoffnung auf eine Wende im Bürgerkrieg in Libyen. Doch die Unterzeichnung der vom deutschen UN-Sondergesandten Martin Kobler im Dezember ausgehandelten Übereinkunft zwischen den beiden Bürgerkriegsparteien wäre nicht der erste Verhandlungserfolg, der dann doch nicht umgesetzt werden konnte.
Tatsächlich dürfte sich die Lage in dem ölreichen Land so schnell nicht verbessern. Beide Machtblöcke, die international anerkannte Regierung mit Sitz in der Stadt Tobruk und die von Islamisten geführte Gegenregierung in Tripolis, kontrollieren jeweils Teile der Ölproduktion und können ihren Kampf damit noch lange finanzieren. Allenfalls die drohende Ausbreitung des „Islamischen Staates“, der mit den lokalen Islamisten nichts gemein hat, könnte den Druck auf sie erhöhen, zusammenzuarbeiten.
Der IS-Faktor könnte auch die internationale Aufmerksamkeit wieder stärker auf Libyen ziehen. Seit deutlich weniger Flüchtlingsboote von der libyschen Küste in Richtung Europa ablegen, weil sich die Hauptflüchtlingsroute ins östliche Mittelmeer verlagert hat, ist das Interesse am Geschehen im Land zurückgegangen. Dabei verschärfen Waffen und Kämpfer aus Libyen Spannungen in anderen Ländern der Region und gefährden die Stabilität ganz Nordafrikas.
Ein internationaler Militäreinsatz wie in Syrien ist aber unwahrscheinlich. Schließlich waren schon die 2011 von Frankreich, den USA und Großbritannien geführten Luftschläge gegen den früheren Machthaber Muammar al Gaddafi international umstritten. Ein Abgleiten des Landes ins Chaos konnten sie nicht verhindern. Libyen steht daher wohl vor einem Verhandlungs- und Übergangsprozess der kleinen Schritte.
Ägypten: Wirtschaft am Boden
Sisi, Sisi, Sisi. Am Präsidenten führt in Ägypten derzeit kein Weg vorbei. Zum einen kann sich der ehemalige Feldmarschall auf das Militär und den Sicherheitsapparat verlassen. Zum anderen steht ein Großteil der Bevölkerung hinter dem Staatschef, der ihnen nach unruhigen Jahren vor allem Sicherheit und Ordnung verspricht. Dass der vielbeschworene Anti-Terror-Kampf mit Menschenrechtsverletzungen und Repressionen gegen jede Art Opposition einhergeht, fällt dabei offenbar kaum ins Gewicht.
Dennoch kann sich Abdel Fattah al Sisi seiner Macht nicht hundertprozentig sicher sein.
Das liegt in erster Linie an der desolaten Lage der Wirtschaft. Nach Einschätzung von Stephan Roll schwebt der Staatsbankrott wie ein Damoklesschwert über dem Land. „Das Regime ist dringend auf die finanzielle Unterstützung der Golfmonarchien angewiesen“, sagt der Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik. Doch der Ölpreis fällt, und die einst prall gefüllten Kassen der Königshäuser leeren sich. Da ist es aus Sicht der Regierung in Kairo hilfreich, dass auch der Westen bereit ist, dem Land unter die Arme zu greifen. So können Ober- und Mittelschicht weiter konsumieren und ihre Kinder in teure Schulen schicken. So lange dies gewährleistet ist, wird man Sisi wohl die Treue halten.
Sollte der 61-jährige Präsident die Wirtschaft aber nicht in den Griff bekommen und die Arbeitslosigkeit weiter steigen, könnte gerade die Terrorgefahr nochmals zunehmen. „Die schlechte ökonomische Situation ist ein Nährboden für Radikalisierung“, sagt auch Ägypten-Experte Roll. Und sollte es mehr Anschläge geben, könnten die Militärs sich fragen, ob die Politik der Willkür und Unterdrückung wirklich ein erfolgversprechender Kurs ist, um dem Extremismus Herr zu werden. Für Sisi heißt das, er muss liefern. So schnell wie möglich. Anderenfalls folgt auf umfassende Macht große Ohnmacht.
Jordanien: Die Last der Flüchtlinge
König Abdullah ist ein eher zurückhaltender Monarch. Doch als Anfang Februar bekannt wurde, dass der „Islamische Staat“ auf bestialische Weise einen jordanischen Piloten ermordet hatte, reagierte der Herrscher mit martialischen Worten. Das Blut des Märtyrers sei nicht umsonst geflossen. Die Antwort auf den gewaltsamen Tod werde die Erde erbeben lassen. Man müsse die Dschihadisten ausrotten.
Die markige Rhetorik konnte allerdings schon damals kaum darüber hinwegtäuschen: Jordanien gehört zu den schwächsten und am meisten gefährdeten Staaten innerhalb der westlichen Anti-IS-Koalition. Denn um die Stabilität des Landes ist es schon lange Zeit schlecht bestellt. Das kommende Jahr könnte auch für das haschemitische Königreich zu einer echten Bewährungsprobe werden. Mit ungewissem Ausgang.
Der Kampf gegen die Terrormiliz spielt dabei eine wesentliche Rolle. Den Kriegskurs des Monarchen tragen längst nicht alle der fast sieben Millionen Jordaniern mit. Bei jungen Leuten genießt der IS sogar teilweise große Sympathien. Anhänger finden die Islamisten vor allem in den Armenvierteln. Dort geben zumeist Salafisten und Muslimbrüder den Ton an. Und dabei kommt das Herrscherhaus in der Regel schlecht weg. Der Unmut wächst mit jedem Tag.
Das ist in erster Linie der desolaten Wirtschaftslage geschuldet. Immer mehr Menschen finden weder Jobs noch Wohnungen. Die Preise steigen. Korruption ist allgegenwärtig. Für ihre prekäre Lebenssituation machen die Jordanier die Flüchtlinge verantwortlich. Das Land hat offiziellen Angaben zufolge 650.000 Syrer aufgenommen. Tatsächlich dürften es mehr als eine Million sein. Die meisten leben nicht etwa in den recht gut organisierten Lagern der Vereinten Nationen, sondern sind in Städten, Dörfern und Gemeinden untergekommen. Doch arbeiten dürfen die Syrer nicht. Deshalb nehmen sie illegal Jobs zu Dumpinglöhnen an – darunter leidet das Einkommen der Einheimischen. Und das ohnehin extrem rare Wasser müssen die Jordanier auch noch mit den Schutzsuchenden teilen.
Experten sind sich daher weitgehend einig: Um die Not im Lande zu lindern und somit das Herrscherhaus zu stabilisieren, braucht es dringend finanzielle Hilfe. Geld für Infrastrukturprojekte und zur Versorgung der Flüchtlinge ist dringender denn je. Nur so lässt sich die Zeitbombe Jordanien entschärfen. Anderenfalls stehen Dschihadisten bereit, von innen und außen die Kontrolle über das Königreich zu übernehmen.