Aufstände gegen Wachstum: Weltweit stemmen sich die Menschen gegen falsches Wirtschaften
Was die Proteste im Libanon, in Chile, in Hongkong, Ecuador und Frankreich verbindet. Ein Gastkommentar.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Honorarprofessor für Ethik und Theologie an der Universität Lüneburg.
Es sind nicht nur die Bilder der Proteste, die derzeit an vielen Orten der Welt ausbrechen, die sich gleichen. Im Libanon, in Chile, in Ecuador ebenso wie in Hongkong und in Frankreich haben die Unruhen auch ähnliche Ursachen: Eine Steuer auf die tägliche Nutzung sozialer Medien brachte die Libanesen auf die Straße.
In Chile zog eine Million der 17 Millionen Einwohner des Landes durch die Hauptstadt Santiago, weil der Preis auf Busfahrscheine um wenige Cent angehoben werden sollte. In Ecuador strich die Regierung Subventionen auf den Benzinpreis, betroffen waren vor allem Landwirte und Menschen mit niedrigen Einkommen und älteren Fahrzeugen. Der wegen einer Ökosteuer steigende Spritpreis war auch der ursprüngliche Auslöser für die Gelbwesten-Demonstrationen in Frankreich, die Paris heimsuchten. In Hongkong begannen die Proteste, weil die Regierung ein Gesetz verabschiedet hatte, das eine Auslieferung von Bürgern Hongkongs an China ermöglicht hätte. Im Zuge der Proteste spielten aber die steigende Lebenshaltungskosten zunehmend eine Rolle: Wohnraum ist in der Stadt unerschwinglich teuer.
So mancher Kommentator weist die Schuld dem Neoliberalismus zu, etwa der Privatisierung öffentlicher Güter. Die Gewinner der Globalisierung würden sich außerdem nicht um die kümmern, die von ihr überrollt wurden.
Schaut man sich das Beispiel Chile genauer an, kann die Analyse der gegenwärtig globalen Proteste über die Neoliberalismus- und Globalisierung-Erklärung hinausgehen: Chile galt seit den Tagen des Diktators Pinochet als Mutterland neoliberalen Wirtschaftens, ein Modell, das mit der Unterstützung der USA als Gegenentwurf zu Allendes Gesellschaftsentwurf installiert wurde. Wer nach Santiago de Chile fährt, der sieht eine glänzende Metropole, die aus jeder Pore den Erfolg des Landes und seinen Aufstieg in eine Mittelklassegesellschaft zu unterstreichen scheint. Das Land hatte in der jüngeren Vergangenheit ein steigendes Bruttoinlandsprodukt vorzuweisen. Ökonomen und Kommentatoren interpretierten das als steigenden Wohlstand.
Doch nur, weil das Bruttoinlandsprodukt steigt, steigt nicht unbedingt der Wohlstand der Menschen. Dieses Zusammenspiel ist nicht mehr gegeben. In nahezu allen demokratischen Staaten der westlichen Hemisphäre, zu der auch Lateinamerika zählt, hat sich das Bild durch eine steigende Automatisierung gewandelt: Mit ihr geht ein Effizienzgewinn und somit eine höhere Produktivität einher. Die Wirtschaftsleistung steigt, ohne dass dadurch automatisch die Haushalte ein höheres Einkommen zu verzeichnen hätten. Das stimmt auch in Deutschland, das auf den ersten Blick wirtschaftlich erfreulich gut dasteht, aber auf den zweiten konstatieren muss, dass sich in dem Land mittlerweile neun Millionen Menschen im Niedriglohnsektor durchschlagen müssen.
Mit Wohltaten übertüncht
In der Vergangenheit hätte man diese zunehmende Ungleichheit mit sozialen Wohltaten übertüncht, die durch eine höhere Staatsverschuldung finanziert worden wären. Diese Zeiten sind vorbei. Zum einen hat sich in der Finanzkrise gezeigt, was eine überhohe Staatsverschuldung bedeutet.
Außerdem steht eine rein auf Wachstum ausgelegte Wirtschaft zunehmend auch unter ökologischen Gesichtspunkten in der Kritik. In einer Welt, deren Ressourcen verbraucht sind, lässt sie sich auf Dauer nicht mehr aufrechterhalten. Was auf die alte Ordnung folgen soll, ist indessen unklar. So wird derzeit vom Bestand gezehrt.
Eine Folge dieser Denkfaulheit ist es, dass sich vom einfachen Sparer über die Pensionskassen und die Versicherungsfonds bis hin zu den gefürchteten Spekulanten alle dem einzigen Sektor zuwenden, der noch verlässlich Ertrag erwirtschaftet: dem Immobiliengeschäft. Mit der Folge, dass die Nachfrage durch die Decke geht, die Preise steigen und bezahlbarer Wohnraum, nicht nur in Hongkong, unerschwinglich wird.
Von Akteuren wie Donald Trump wird die Re-Nationalisierung der Wirtschaft als Heilmittel gegen die zunehmende Ungleichverteilung des Wohlstands angepriesen. Er will Jobs zurück in die USA holen. Das geht aber nur auf Kosten von Menschen in anderen Ländern, was der Handelskrieg mit China zeigt. In einer global vernetzten Ökonomie sind alle Teilnehmer darauf angewiesen, dass mit Fairness so agiert wird, dass jeder ein Stück weit profitiert.
Bislang wurden als über-nationale, nur global zu lösende Probleme zwei identifiziert: der Klimawandel und Flüchtlingsbewegungen. Das Beharren auf einem auf reinem Wachstum basierenden Wirtschaftssystem wird sowohl den Raubbau an der Natur fortsetzen und in der Konsequenz auch zu mehr Flüchtlingen führen. Nur wenn als drittes dringendes Handlungsfeld das Arbeiten an einer neuen Weltwirtschaft identifiziert wird, werden wir weniger Proteste in den kommenden Jahren sehen und nicht mehr. Im Moment ist das aber nur ein frommer Wunsch.
Alexander Görlach