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Nah bei den Leuten: Hannelore Kraft am Freitag beim Wahlkampf-Abschluss der SPD in Duisburg.
© Thilo Schmuelgen/Reuters

Politik auf der Straße: Was der Wahlkampf in NRW über die Demokratie aussagt

Der Metaller trat in die SPD ein, um die Agenda 2010 zu bekämpfen, eine ältere Frau mokiert sich über die junge CDU-Kandidatin. Und alle schimpfen auf den Verkehr. Szenen aus dem Wahlkampf an Rhein und Ruhr.

Udo Winkler wird am Sonntag natürlich SPD wählen. Natürlich will er, dass Hannelore Kraft Ministerpräsidentin bleibt. Und natürlich könnte man jetzt sagen, das sei ja klar, denn Udo Winkler, 56 Jahre alt, zwei Kinder, ist ja selbst SPD-Mitglied und bei der IG Metall engagiert. Aber da es längst nicht mehr so ist, dass diese Klientel auch wie früher immer und wie automatisch SPD wählt, ist Udo Winklers Einstellung gar nicht so natürlich.

41 Jahre ist er nun Elektrotechniker bei Thyssen-Krupp, und nur aus einem einzigen Grund in die SPD eingetreten. Winkler erzählt das alles am Rande der Abschlussveranstaltung der SPD in Duisburg, gerade redet die Ministerpräsidentin, aber Winklers Geschichte ist spannender. Er ist vor vier Jahren in die SPD eingetreten, weil er, wie er sagt, „dafür kämpfen wollte, dass die Agenda 2010 endgültig zurückgenommen wird“. Jetzt, findet er, sei er schon ein gutes Stück vorangekommen. Und grinst.

Er sagt, als Familienvater habe er 900 Euro im Jahr mehr in der Tasche, weil die Studiengebühren abgeschafft worden sein, außerdem sei die Kita günstig, und wenn die SPD es jetzt noch schaffe, dass er 50 Prozent seines Gehalts am Ende als Rente bekomme, dann sei er vollkommen zufrieden.

Allerdings erlebt Udo Winkler in der Gewerkschaft und bei den Vertrauensleuten in seinem Betrieb ganz andere Meinungen. Die AfD hat zwar in NRW in den letzten Wochen an Wählerzustimmung eingebüßt, aber Winkler kennt die Diskussionen im Betrieb. Da seien selbst Betriebsräte mit Migrationshintergrund für die AfD, nicht offen, aber oft heimlich. Das macht ihm große Sorgen. Am liebsten würde er solchen Leuten ein Vertreteramt im Betrieb verwehren. „Da muss man Flagge zeigen!“

Krude Theorien - und der Gedanke an die Wahlkabine

Das, was Winkler in seinem Unternehmen erlebt, kann man in diesen Tagen selbst beobachten. In Pulheim, nicht so weit von Köln gelegen, hat die AfD ihren Wahlkampfstand in sicherer Entfernung vom Markt und den anderen Parteien aufgebaut. Die beiden Parteivertreter lästern vor allem über ihren Spitzenkandidaten Marcus Pretzell, verheiratet mit AfD-Chefin Frauke Petry, der nicht nur in der informierten Öffentlichkeit, sondern auch in der AfD selbst höchst umstritten ist.

Politische Inhalte kann man hier nicht hören, stattdessen krude Theorien über „Umfrageinstitute, die nur das veröffentlichen, was die Amerikaner ihnen vorgeben“. Ein paar Meter weiter dreht ein Angestellter der städtischen Müllabfuhr, traditionell ganz in Orange gekleidet, merkwürdig oft seine Runden mit einem Müllcontainer am AfD-Stand vorbei. Irgendwann flüstert er, dass er ja „nicht zu euch kommen kann“, weil er bei der Stadt arbeite. Warum? Wieder im Flüsterton: Er habe einige Kollegen, die das offen kommuniziert hätten, und nun „ist das für die ein einziges Spießrutenlaufen“.

Dann lächelt der Müllmann in seinen Vollbart und sagt: „Aber in der Wahlkabine ist man ganz für sich allein…“ Es kann schon sein, dass die Umfragen die AfD auch deshalb im Moment schlechter sehen, weil noch mehr Menschen als sonst nicht offen sagen, dass sie diese Partei wählen würden. Am Sonntag wird man ja sehen.

Die Linke ist wütend auf Hannelore Kraft

Die AfD ist den meisten Parteien aber aus einem Grund auch ganz recht: Man kann sich an ihr abarbeiten, und das machen vor allem SPD, Linke und Grüne sehr ausgiebig. Hannelore Kraft geht explizit auf die AfD ein, und auch die Linken-Spitzenkandidatin Özlem A. Demirel bekommt in Bielefeld bei ihrer Rede neben dem Rathaus den größten Applaus, als sie fordert, dass man den Rechten keine Chance lassen dürfe.

Wenn Udo Winkler in Bielefeld gewesen wäre, dann hätte er wohl ein wenig schlucken müssen. Denn die Klientel, für die er in der SPD kämpft und die er von der Agenda 2010 verraten sah, die hat sich hier versammelt. Es sind die Menschen mit geringen Einkommen, alte wie junge, es sind die, die eigentlich gehofft hatten, dass es vielleicht endlich zu einem rot-rot-grünen Bündnis kommt, um die Politik umzusetzen, von der man glaubte, dass sie nun auch Martin Schulz als SPD-Spitzenkandidat umsetzen würde.

Umso wütender ist die Linke, dass Hannelore Kraft eine Koalition mit der Linken noch kurz vor der Wahl ausgeschlossen hat. Offensichtlich hat die Ablehnung aber auch einen Mobilisierungseffekt, denn der Platz ist sehr gut gefüllt, was nicht nur an Sahra Wagenknecht liegt, die an diesem Tag hier redet.

Vor allem aber spricht Özlem A. Demirel den Leuten aus der Seele, als sie ruft, Kraft wolle offensichtlich gar keine sozial gerechtere Politik, sie wolle lieber mit Christian Lindner und der FDP regieren“.

Die Linke demonstriert dann das, wofür sie steht: Ein junger Student zitiert Ché Guevara, „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, dann wird unter denen, die sowieso wenig haben, für einen Defibrillator für das örtliche Krankenhaus gesammelt, der „kostet 2000 Euro“. Die örtlichen Linken-Kandidaten sprechen  vor allem über die „katastropale Verkehrssituation“ an einem viel befahrenen Platz in der Stadt. Der Verkehr ist tatsächlich ein Thema und vielen ein Ärgernis, fast überall, wo man hinkommt, wird darüber geschimpft.

"Was nutzt es, wenn man nie ankommt"

Auch im Regionalzug zwischen Köln und Hamm. Er ist, wie fast alle Züge, die in NRW fahren, meist rappelvoll. Und hat Verspätung. Drinnen unterhalten sich drei Studenten über die Verkehrssituation, weil eine von ihnen ihren Anschlusszug „mal wieder verpassen wird“, erst war der Zug zu spät, dann machte ihn eine Stellwerksstörung noch später, und schließlich hält er aus ungeklärten Gründen an vorgesehenen Bahnhöfen „heute nicht“.

Das kann einem vor allem im Ruhrgebiet ziemlich oft passieren. Manchmal erfahren Zuggäste eines ICE kurzfristig via Bahn-App, wenn sie eine auf ihrem Smartphone haben, dass der Zug X oder Y dieses Mal etwa nicht in Dortmund hält, und auch nicht in Essen, und nicht in Bochum. Wie man stattdessen weiterkommt, erfährt man nicht.

Die Studentin im Zug, die nicht aus NRW kommt, sagt: „Aber ihr habt hier doch das NRW-Ticket, damit kommt ihr überall hin. In Hessen geht das nicht.“ Ihr Gesprächspartner nickt: „Stimmt schon, aber was nutzt es, wenn man nie ankommt.“ Aus dieser Lage ziehen die Drei allerdings keine Schlüsse für die kommende Wahl. In Duisburg, bei der Abschlusskundgebung, ist Kraft auf das verbilligte Studententicket eingegangen und hat gesagt, das müsse es auch für die Auszubildenden geben.

Armin Laschet kann es selbst kaum glauben

Unters Volk: CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag beim Wahlkampffinale in Aachen.
Unters Volk: CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag beim Wahlkampffinale in Aachen.
© Thilo Schmuelgen/Reuters

In Pulheim bleibt auch nach einer halben Stunde niemand bei der AfD stehen. Dabei ist zum Beispiel bei der CDU am Stand das Thema innere Sicherheit ziemlich angesagt. Gerade war noch Armin Laschet hier mit der örtlichen CDU-Kandidatin, über die eine ältere Frau pikiert sagt, sie sehe aus wie 12, in Wirklichkeit ist sie 28 Jahre. „Wie kann man ein solches Mädel nominieren“, fragt die Dame. Antwort am CDU-Stand: „Wählen Sie sie, dann werden Sie es verstehen.“

Laschet strotzt vor Selbstbewusstsein, und macht doch gleichzeitig den Eindruck, dass er es selbst für total lustig hält, dass nun ausgerechnet er, der noch vor Monaten zwölf Prozent hinter der SPD und Kraft lag, nun plötzlich ernsthaft die Chance hat, Ministerpräsident zu werden. Wie formuliert es Laschet: „Wenn die Menschen Rot-Grün nicht wollen, dann muss es wohl eine Wechselstimmung geben.“

Ein paar Meter weiter bei der SPD herrscht weniger Fröhlichkeit, ein Polit-Promi ist heute nicht gekommen, dafür sieht der Stand aus wie ein Blumengeschäft. Es gibt allerdings nur rote Rosen. Das ist zwar normal, nicht nur, weil am Sonntag Muttertag ist, sondern weil traditionell immer alle Parteien Blumen verteilen. Nur: Warum hat die SPD dann noch so unendlich viele?

Die Grünen haben wenigstens grüne Windrädchen für die Kinder dabei. Das ist immer gut für ein Eingangsgespräch. Die Grünen-Spitzenfrau und Bildungsministerin Sylvia Löhrmann hat es auch nicht leicht, weil viele ihre Schulpolitik dafür verantwortlich machen, dass die Grünen gerade eher knapp über der Fünfprozentmarke liegen. Löhrmann ist hart im Nehmen, aber man sieht ihr an, dass dieser Wahlkampf und die Angriffe auch auf ihre Person Spuren hinterlassen haben. Christian Lindner von der FDP verglich ihre Schulpolitik mit einem Recycling-Glascontainer: lauter Scherben.

Die örtlichen Grünen geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass ihr Spitzenpersonal nicht so glücklich agiert habe. Manche verstehen auch nicht, warum die Grünen ein so gewaltiges Problem mit der FDP haben. In Schleswig-Holstein funktioniere das ja schließlich auch.

Die übergroße Mehrheit nimmt ihren Job sehr ernst

So ein Wahlkampf hat aber auch noch eine andere Seite, die man im Eifer der Gefechte kaum sehen kann: Es gibt da doch eine ganze Reihe von Politikern, die übergroße Mehrheit, die ihren Job sehr ernst nimmt und doch noch einigermaßen fröhlich dabei ist, geerdet, eben nicht abgehoben, die Verantwortung übernimmt und versucht, es nicht persönlich zu nehmen, wenn sie beschimpft wird.

Nah bei de Leut‘ zu sein, wie es Hannelore Kraft etwa beherrscht, kann man nicht aus Berechnung. Man muss Menschen schon auch mögen. Selfies machen, Hände schütteln, von einem Termin zu nächsten eilen, Stellung beziehen, Lösungen präsentieren, Niederlagen einstecken. In Nordrhein-Westfalen wie auch anderswo kann man auch ganz gut besichtigen, dass diese Demokratie funktioniert. Und lebt. Was gibt’s da zu meckern?

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