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Wider die Ikonisierung: Juan Martín Guevara mit einem Poster seines älteren Bruders
© Reuters

Che Guevaras Bruder in Kreuzberg: "Ein wissbegieriger Trotzkopf, ein Schalk und Spötter"

Juan Martín Guevara hat eine Biografie über seinen berühmten großen Bruder verfasst. Im Café in Berlin-Kreuzberg erzählt er, warum "Che weiter lebt".

Juan Martín Guevara kennt das schon: das Interesse an seiner Person, das vor allem mit seinem Bruder verbunden ist. Das erste Mal in seinem Leben verhaftet wird, am 3. Mai 1974, weiß er nicht genau, ob das mit seinem Nachnamen zu tun hat oder weil er Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei Argentiniens ist, erzählt er bei seinem Besuch in Berlin. 1974 sind es noch fast zwei Jahre bis zum Militärputsch, und doch herrscht in Argentinien große Unruhe. Der nach seiner Rückkehr aus dem Exil zum dritten Mal gewählte Präsident Juan Perón hat sich zunehmend nach rechts ausgerichtetet Überall im Land sind Todesschwadronen unterwegs.

Verteidigt von seinem als Anwalt tätigen Bruder Roberto, kommt Juan Martín Guevara nach drei Monaten wieder frei, um im Jahr darauf abermals verhaftet zu werden. Über acht Jahre dauert daraufhin seine Leidenszeit. Wiederum ist ihm nicht klar, ob seine politische Tätigkeit der Grund für die Inhaftierung ist – oder sein älterer Bruder Ernesto „Che“ Guevara, der Revolutionär, Arzt und Castro-Vertraute, der 1967 im bolivianischen La Huigera erschossen wurde. Und ob dieser ihm nicht doch eine gewisse Unantastbarkeit zumindest im Gefängnis beschert und ihn anders als viele der zehntausenden Verschwundenen zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur vor dem Tod bewahrt hat.

Juan Martín Guevara will darüber an diesem trüben, kalten Maivormittag im Café der Sarotti-Höfe in Berlin-Kreuzberg keine großen Worte verlieren. Das sei alles lange her, sagt er. Natürlich ist ihm bewusst, dass das Interesse an seiner Person vor allem dem 15 Jahre älteren Bruder geschuldet ist, einer der ultimativen Polit-, Revolutions- und Pop-Ikonen des 20. Jahrhunderts. „Mein Bruder Che“ heißt das gerade auf Deutsch erschienene Buch von Guevara, das mit der Hilfe der französischen Journalistin Armelle Vincent entstanden ist. Er war gerade in Italien und Spanien, und nun gibt er von morgens bis abends in Berlin Interviews. Was ihm alles trotz seiner 73 Jahre wenig auszumachen scheint, so drahtig und robust wie er wirkt, so fidel wie er sich gibt.

Guevara will den Mythos wieder mit Inhalt füllen

Sein Hauptziel sei es, sagt Juan Martín Guevara, dass die Menschen seinen Bruder „jenseits des Mythos“ und „jenseits seines Totalausverkaufs“ kennenlernen sollen. Dieser Mythos sei nur noch ein leeres Gefäß, das er wieder mit Inhalt füllen wolle: „Die Leute tragen ein verzerrtes Bild von Che mit sich herum. Hinter der Maske einer Ikone oder des Guerilleros, so anziehend sie sein mag, gibt es eine Botschaft.“ Guevara hat lange mit dieser Art der öffentlichen Erzählung gewartet. Mit seinen älteren Geschwistern Robert, Celia und Ana-María war er sich nach dem Tod des Bruders einig, nur untereinander über ihn zu sprechen. Ein „stillschweigendes Einverständnis“ sei das gewesen, „ich wollte nicht auch noch dazu beitragen, sein Andenken auszubeuten.“

Mit den Jahren sei ihm klar geworden, Che immer ähnlicher geworden zu sein: „Wir sind nun mal Blutsverwandte“. Zumal er den Eindruck gehabt habe, dass in Argentinien kaum noch jemand die Guevara-Geschichte kannte, als er 2007 begann, Interviews zu geben – zunächst wegen Entschädigungszahlungen der argentinischen Regierung an ehemalige politische Häftlinge: „Die kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Das zeigt, wie wenig sie mit den Hintergründen vertraut waren.“ Angeblich aber, so steht es im Buch, weiß Schwester Celia bis heute nichts davon, „es kann sein, dass sie nie wieder mit mir spricht“. Er werde ihr, sagt er lachend, da sie des Italienischen und des Französischen mächtig sei, eine deutsche Ausgabe des Buches geben, die könne sie nicht lesen.

Ikone zum Kleben. Ernesto Guevara als kubanische Briefmarke.
Ikone zum Kleben. Ernesto Guevara als kubanische Briefmarke.
© Alamy Stock Photo

Es ist dann nicht ganz einfach, sich mit Juan Martín Guevara über die politische Sendung Ches zu unterhalten. „Politik und Revolution“ gehören zusammen ruft er einmal aus, und als tapferer alter lateinamerikanischer Linker glaubt er wirklich, dass Che „der marxistische Leuchtturm des 21. Jahrhunderts“ sein werde. Von Ches „Denken“ ist in dem Buch häufig die Rede, von seiner „Wahrhaftigkeit“, seinem „sozialen Gerechtigskeitssinn“, seiner „Anprangerung des Reichtums und der Gier“, ohne dass all das präziser ausgeführt würde: „Ihn in seiner Menschlichkeit darzustellen, ist die einzige Möglichkeit, über sein Denken zu sprechen, seine Philosophie und sein Bewusstsein."

Guevara singt ein hohes Lied auf Kuba

Das mit der Menschlichkeit zumindest gelingt Juan Martín Guevara in der ersten Buchhälfte gut. Nach einer ersten Episode über die Ankunft der Guevara-Familie nach der kubanischen Revolution in Havanna 1959 beginnt er seine Familiengeschichte zu erzählen: die der großbürgerlichen Großeltern, einer politisch sensiblen Mutter und eines versponnenen, verantwortungslosen Vaters. Allein in Alta Gracia, einem Gebirgsort in der Provinz Cordóba, wohin die Eltern wegen des Asthmas des kleinen Ches ziehen, wohnt die Familie in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren in sieben verschiedenen Häusern. „Wir sind ein Wanderzirkus im permanenten Chaos“, schreibt Juan Martín, was auch den Charakter bestimmt: „Jeder, aber auch jeder von uns hat einen Sprung in der Schüssel, angeführt vom Oberverrückten, meinem Vater.“

Als wissbegierigen Trotzkopf bezeichnet Guevara seinen Bruder Ernesto, als „Schalk und Spötter“, der früh zum Nomaden wird. An der Universität in Córdoba studiert Che erst Ingenieurswissenschaften, dann Medizin. In seinem revolutionärem Denken wird er von einer bolivianischen Haushälterin entscheidend beeinflusst, so kommt es Juan Martín im Nachhinein vor. 1952 reist Che erstmals mit seinem Freund Alberto Grande monatelang über den lateinamerikanischen Kontinent. Danach beendet er sein Medizinstudium, um sich 1953 im Alter von 25 Jahren auf eine weitere Reise zu begeben, eine ohne Wiederkehr. Er macht in Mexiko die Bekanntschaft der Castro–Brüder, landet 1957/58 in der kubanischen Sierra Maestra, wird nach dem Triumph auf Kuba Industrieminister.

"Che lebt weiter"

Auffallend ist das hohe Lied, das Juan Martín Guevara auf Castro und überhaupt auf Kuba singt, es gibt da wirklich nicht einen kritischen Ton. „Jedes Land versucht seine Probleme auf eigene Art zu lösen, die Kubaner haben das Bestmögliche getan“, sagt er in den Sarotti-Höfen. Der Blick Lateinamerikas auf Kuba und was dort passiert sei, gerade der aus der Zeit der siebziger bis neunziger Jahre, „ist anders als der von Europa aus. Das mag von mir aus idealistisch sein!“

Tatsächlich weiß er von Ches kubanischem Wirken, dem Verschwinden 1965, dessen Zeit in Afrika und dann in Bolivien das Allermeiste auch nur aus zweiter Hand. Das "Debakel" von Bolivien ist für ihn,, „ein nur schwer auflösbares Rätsel, eine Niederlage des revolutionären Projekts für den ganzen Kontinent“.

Ob es ihm gelingt, seinen Bruder zu entmystifizieren? Zumal er mit seinem Buch unwesentlich Neues erzählt, er selbst also von dem Mythos profitiert? „Che lebt weiter“, davon ist er überzeugt, „er kann uns aufrütteln “. In diesem Sinn versteht Juan Martín Guevara es nun als seine dringlichste Aufgabe als Geschäftsmann, der er nach den Jahren im Gefängnis war (erst Bücher, dann kubanische Zigarren), das Andenken des Bruders zu bewahren. Das „Mein Bruder Che“ mit einem Brief des Erzbischofs Moures an ihn selbst endet, nachdem er 1983 aus dem Gefängnis entlassen worden war, hat dann etwas Rührend-Tragisches. Es scheint, als wolle Juan Martín Guevara damit sagen: Auch ich hatte eine Lebensgeschichte, die sich zu erzählen lohnt.

Juan Martín Guevara, Armelle Vincent: Mein Bruder Che. Aus dem Französischen von Frithwin Wagner-Lippok und Christina Schmutz. Tropen Verlag, Stuttgart 2017. 352 Seiten, 22, 99 €

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