Gremium empfiehlt Aberkennung des Titels: Was der FU-Bericht für Giffeys Wahlchancen in Berlin bedeutet
Die FU kommt offenbar zu dem Schluss, dass Franziska Giffey der Doktortitel aberkannt werden muss. Was würde das für ihre Zukunft bedeuten? Und was für den Ruf der Uni?
Franziska Giffey könnte vor dem Verlust ihres Doktortitels stehen: Die Prüfungskommission kommt in ihrem Gutachten wohl zu dem Schluss, dass der Bundesfamilienministerin und Spitzenkandidatin der Berliner SPD für die Abgeordnetenhauswahl der Titel entzogen werden soll. Zwar ist noch nicht klar, wann die Entscheidung endgültig fällt – doch jetzt, wo diese Information in die Öffentlichkeit gelangt ist, spielt sie auch für den Berliner Wahlkampf eine wichtige Rolle.
Welche Konsequenzen wird Giffey im Fall der Aberkennung ziehen?
Das ist einfach: gar keine. Giffey sieht die Sache für sich als erledigt an, nachdem sie im November verkündet hatte, den Titel nicht mehr zu tragen. In einem Interview mit dem Tagesspiegel-Podcast „Eine Runde Berlin“ sagte Giffey: „Für mich kann man mal sagen, der Drops ist gelutscht“. Sie sagte: „Das Thema ist durch.“
Zu diesem Zeitpunkt lag ihr das Gutachten bereits vor, das Ergebnis war aber noch nicht öffentlich geworden. Auf die Frage, welche Konsequenzen sie nun ziehen würde, sagte Giffey: „Ich habe mich dazu ganz klar geäußert: Das Verfahren, in dem ich das gesagt habe, ist abgeschlossen. Das ist beendet.“
Sie argumentiert, dass die Partei wusste, dass ihr Titel zur Debatte steht. „Ich habe diese Kandidatur zu einem Zeitpunkt angeboten, wo klar war, dass es nochmal eine Neuaufrollung gibt.“ Sie sei unter diesen Vorzeichen zur Spitzenkandidatin gewählt worden, erklärte Giffey. „Ich stehe dazu, was ich versprochen habe.“ Nun sehe sie sich in der Verantwortung, „dieses Versprechen einzulösen“.
Wie reagierte Giffey bislang?
Nachdem die FU das Plagiatsverfahren wieder aufrollte und die ursprüngliche Rüge wieder einkassierte, hatte Giffey im vergangenen November bekanntgegeben darauf zu verzichten, ihren Titel weiter zu führen – ihn also etwa auf ihrer Webseite weiter zu erwähnen oder sogar damit zu unterschreiben, wie sie es davor gerne getan hatte. Sie habe sich zu dem Schritt entschieden, um weiteren Schaden von ihrer Familie und ihrer politischen Arbeit sowie ihrer Partei abzuwenden.
Ihre Arbeit als Ministerin werde sie fortsetzen, sagte Giffey damals. Das war eine Kehrtwende und der Versuch, sich aus dem Dilemma um ihre Dissertation zu befreien.
Im Sommer 2019 hatte Giffey noch angekündigt, sie werde als Familienministerin zurücktreten, falls ihr der Titel aberkannt werde. Sofern die FU zu diesem Schluss komme, „werde ich dies akzeptieren“, schrieb sie an die damalige kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer: „Sollte dieser Fall eintreten, würde ich daraus die Konsequenzen ziehen und mein Amt als Bundesministerin aufgeben.“ In dem Schreiben erklärte sie, dass sie sich wegen des damals noch laufenden ersten Verfahrens nicht um die vakante SPD-Führung bewerben wolle.
Weiter schrieb sie: „Ich habe auch in meiner Zeit als Kommunalpolitikerin in Berlin-Neukölln immer für ein klares Benennen von Problemlagen und eine klare Haltung gestanden. Danach zu handeln, hat mich geleitet. So will ich auch mit dieser Situation umgehen.“
Formell ablegen kann Giffey ihren Titel nicht. Denn die Verleihung des Doktortitels ist ein Rechtsakt, den nur die ausstellende Behörde – also die FU – rückgängig machen kann. Daher prüfte die FU auch trotz Giffeys Ankündigung, den Titel nicht mehr führen zu wollen, weiter.
Wie ist die Stimmung in der Landes-SPD?
Die SPD steht hinter ihrer Spitzenkandidatin. Es gibt, insbesondere vier Monate vor der Abgeordnetenhauswahl, auch keine Alternative zu Franziska Giffey in der Partei. Im linken Parteiflügel wird über den ultra-pragmatischen Kurs der Bundesfamilienministerin zwar gemurrt, aber ohne ihr Zugpferd stünde die SPD wohl noch schlechter da. Immerhin liegt sie in Berlin mit 19 bis 20 Prozentpunkten sehr deutlich über dem Bundestrend.
[Abonnenten von T+ lesen hier noch mehr über die Plagiatsaffäre der Familienministerin: Das ist der Mann, der Franziska Giffey stoppen könnte]
Die Verteidigungslinie der Sozialdemokraten ist klar: Schuld am ewigen, pannenreichen Verfahren ist die Freie Universität und nicht Giffey. So twitterte etwa der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sven Kohlmeier: „Bleibt die Frage, wie die FU Berlin mit dem Vertrauensverlust ihrer wissenschaftlichen Reputation umgeht?“
Muss Giffey fürchten, dass die Doktorarbeit zum Wahlkampfthema wird?
Bislang hält sich die Parteiprominenz von CDU, Grüne, Linke und FDP in Berlin öffentlich erstaunlich zurück. Am Dienstag äußerte sich nur die Grünen-Co-Fraktionschefin Antje Kapek zum möglichen Titel-Verlust: Sie forderte Konsequenzen für den Fall, dass die FU Giffey den Doktortitel aberkennt. „Es ist jetzt ihre Chance zu zeigen, ob sie die politische Größe besitzt, zu ihren Versprechungen aus der Vergangenheit zu stehen“, sagte Kapek dem Tagesspiegel.
Ansonsten wollte sich niemand äußern. Einerseits, weil eben noch keine Entscheidung gefallen ist, andererseits, weil die Misere um ihre Doktorarbeit auch bislang Giffeys Beliebtheit wenig schadete. 80 Prozent der Wähler kennen sie, 46 Prozent sind zufrieden mit ihrer Arbeit. Wer sie nicht politisch angreift, sondern über ihre Doktorarbeit, kann sich schnell den Verdacht einer Schmutzkampagne einhandeln, heißt es aus einer Partei-Zentrale.
Alle anderen Kandidierenden, deutlich unbekannter als die Ministerin, werden sich das gut überlegen – gerade vor dem Hintergrund möglicher Koalitionen nach der Wahl. Ihre Entscheidung, den Titel nicht mehr zu verwenden, macht ihr das Ausweichen leicht.
Allerdings ist es ein CDU-Politiker, Adrian Grasse, der durch seine Beharrlichkeit das Verfahren vermutlich erst wieder neu aufrollte: Weil Grasse nachfragte, ein Gutachten in Auftrag gab, wieder nachfragte, kam es zur zweiten Prüfung der Arbeit.
Wie schwerwiegend sind die Vorwürfe gegen die Doktorarbeit von Giffey?
Von einer „objektiven Täuschung“ an 27 Textstellen sprach ein früheres Gutachten der Uni, das die Basis für die ursprüngliche Rüge war. Laut „VroniPlag Wiki“, das die Plagiate als erstes im Jahr 2019 öffentlich machte, gibt es sogar 119 Stellen in der Doktorarbeit, die auf wissenschaftliches Fehlverhalten hinweisen –und das auf 76 von insgesamt 205 untersuchten Seiten. Giffey wurde im Jahr 2010 am Otto-Suhr-Institut der FU mit einer Arbeit zum Thema „Europas Weg zum Bürger“ promoviert, die Arbeit wurde mit magna cum laude (sehr gut) bewertet.
Wann wird das Verfahren endgültig entschieden?
Das steht noch nicht fest. Das Prüfgremium hat dem FU-Präsidium seinen Abschlussbericht vergangene Woche vorgelegt. Giffey hat seitdem Zeit, eine Stellungnahme abzugeben, von der Frist sind drei Wochen übrig.
Erst wenn die Stellungnahme eingegangen ist –was noch nicht der Fall sein soll –, kann der Fall abgeschlossen werden. Die Entscheidung trifft dann das FU-Präsidium. Es muss sich nicht unbedingt an die Empfehlung des Prüfgremiums halten – aber es müssten schon sehr triftige Gründe vorliegen, wenn es davon abweicht.
Über den Inhalt des Abschlussberichts wollte die FU vor dem Abschluss des Verfahrens keine Informationen veröffentlichen, wie die Uni vergangene Woche erklärte. Offen ließ sie auch, wie lange die Beratungen nach Giffeys Stellungnahme dauere. Trotz des durchgestochenen Prüfergebnisses war aus der FU dazu auch am Dienstag nichts zu erfahren.
Ist das Verfahren wegen des Leaks rechtlich angreifbar? Nein, sagt der Staatsrechtler Ulrich Battis auf Anfrage: „Es ist jetzt zwar fehlerbehaftet, aber das wirkt sich nicht auf das laufende Verfahren aus.“ Wäre er Anwalt Giffeys, würde er jetzt zwar vielleicht „trompeten, dass das kein faires Verfahren ist“. Battis hält das aber für wenig stichhaltig: „Da ist nichts zu machen.“
Letztlich würde auch bei vielen anderen Urteilen immer wieder etwas vorab durchsickern, ohne dass diese dadurch infrage gestellt sind. Battis verfasste eine Expertise für die FU, ob die zunächst erteilt Rüge überhaupt rechtmäßig ist, vertritt die Uni im laufenden Verfahren aber nicht.
Wie blamabel ist das neue Informationsleck für die FU?
Das ganze Verfahren ist eine Pannenserie für die FU. Erst sprach sie 2019 „nur“ eine Rüge gegen Giffey aus, diese durfte den Titel behalten – was wegen der Schwere der Vorwürfe bereits äußerst umstritten war. Im Herbst 2020 kam dann die Rolle rückwärts. Nachdem Gutachten anzweifelten, ob die FU überhaupt eine Rüge vergeben durfte beziehungsweise ob eine Rüge im Fall Giffey angemessen war, kündigte die Uni an, alles wieder auf Anfang zu stellen.
Dass jetzt auf den letzten Metern vorab Indiskretionen über das neue Prüfgutachten nach außen dringen, scheint da ins Bild zu passen. Das ist allerdings auch schon bei anderen prominenten Fällen passiert, etwa bei Annette Schavan (CDU). Damals wurde gleich das ganze Prüfgutachten dem „Spiegel“ zugespielt.
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Letztlich trägt Präsident Günter M. Ziegler als Leiter seiner Hochschule die Verantwortung für das Verfahren an der FU, sagt Debora Weber-Wulff, Plagiatsexpertin und Professorin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Aber natürlich delegiere der Präsident im Laufe des Verfahrens auch an den Fachbereich –also das Otto-Suhr-Institut –, etwa wenn es um die Besetzung und die Arbeit der Prüfungskommission geht.
„Aber die Verantwortung kommt zum Schluss zum Präsidenten zurück“, sagte Weber-Wulff. Dass Ziegler in der Causa aus parteipolitischen Gründen handele, wie der FU manchmal von außen unterstellt wird, hält Weber-Wulff für ausgeschlossen: „Ich nehme ihn als sehr integer wahr.“ Als Mathematiker fühle sich Ziegler offensichtlich einem streng wissenschaftlichen Vorgehen verpflichtet.