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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am Donnerstag in Brüssel.
© François Walschaerts/AFP

Streitfall Europa II: Von der Leyen war die beste aller möglichen Lösungen – trotz Hinterzimmer-Politik

Um die Vergabe der Top-Jobs in der EU wird gestritten. Unser Autor findet die Aufregung darüber übertrieben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Von einem Affront gegen demokratische Spielregeln ist die Rede, einem „Fehdehandschuh“, von Hinterzimmerkungelei, einem Angriff auf das Europaparlament und dessen Schwächung. Rhetorisch wird die ganz große Keule geschwungen, um eine Personalie zu diskreditieren, die von allen 28 Staats- und Regierungschefs der EU getragen wird: Ursula von der Leyen als künftige EU-Kommissionspräsidentin. Da drängt sich die Frage auf, was Europa eigentlich mehr schadet – der mühevoll gefundene Kompromiss auf eine gemeinsame Kandidatin oder das Getöse über den Prozess, der zu diesem Kompromiss geführt hat? Wer braucht noch antieuropäische Rechtspopulisten, wenn deren delegitimierende Demagogie dermaßen leicht kopiert werden kann?

[Eine Gegenposition zu diesem Text lesen Sie hier]

Es geht nicht um die Eignung Leyens

Wohlgemerkt: Es geht an dieser Stelle nicht um die Eignung von Ursula von der Leyen. Im Verteidigungsressort hat sie Blessuren davongetragen. Aber ihre politische Karriere ist weitaus länger als diese Episode, die Kandidatin ist international vernetzt, europäisch verankert, beherrscht Fremdsprachen, denkt global und liberal, ohne je dogmatisch zu wirken. Einen Vergleich zum urbayerischen Manfred Weber, dem Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), braucht sie jedenfalls nicht zu scheuen. Oder wollte irgendjemand bei SPD, Linken oder Grünen, wo nun kräftig wutgeschnaubt wird, behaupten, Weber wäre deutlich qualifizierter gewesen? Wer das täte, hätte die Lacher auf seiner Seite.

Es gibt im Ablauf keinen Automatismus

Nein, zur Debatte steht einzig das sogenannte Spitzenkandidatenprinzip. Einem häufig gehörten Missverständnis zufolge ist damit eine Art imperatives Mandat verbunden: Die Parteien nominieren Spitzenkandidaten, und wer von denen die meisten Stimmen bekommt, wird EU-Kommissionspräsident. Doch das Prozedere ist ein anderes. Laut EU-Vertrag schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament einen Kandidaten vor und „berücksichtigt“ dabei lediglich die Ergebnisse des Wahlausganges. Es gibt also keinen Automatismus. Alle Macht geht vom Volke aus: Das ist in der Konstruktion der Europäischen Union nur indirekt richtig, weil zusätzlich zum Parlament die Regierungschefs der Nationalstaaten, die den Rat bilden, demokratisch legitimiert sind.

Allerdings ist auch richtig, dass der Rat wohl kaum an einem Mehrheitsvotum des Parlaments vorbeigekommen wäre. Die Fraktionen des Parlaments blockierten sich selbst. Um diese Blockade zu lockern, musste der Rat das Spitzenkandidatenprinzip verletzen. Eine andere Lösung gab es nicht.

Die Zeit der zwei großen Blöcke im EU-Parlament ist vorbei

Bedeutet das einen Betrug am europäischen Wähler? Nun mal halblang. Wenige Wochen vor der letzten Europawahl kannte fast die Hälfte der Deutschen nicht einmal die sieben Spitzenkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien. Wird irgendein Grieche konservativ gewählt haben, weil er Weber klasse findet, oder ein Österreicher sozialdemokratisch wegen Timmermans? Die Zeit der zwei großen Blöcke im Europaparlament, die gemeinsam eine Mehrheit bilden, ist vorbei, die Fragmentierung schreitet auch hier voran. Daraus resultiert die jetzt sichtbar gewordene Schwächung des Spitzenkandidatenprinzips und eine Stärkung des Europäischen Rates, analysiert der „European Council on Foreign Relations“.
Es ist wahr: Ursula von der Leyen stand bei der Europawahl nicht auf dem deutschen Stimmzettel.

Aber wen sonst hätte der Rat nominieren sollen, nachdem sich das Parlament weder auf Weber oder Timmermans noch auf Vestager hatte einigen können? Eine gute, vollkommen widerspruchsfreie Lösung gab es nicht. Die jetzt gefundene ist die beste unter allen schlechten. Als solche reflektiert sie immerhin auch einen geeinten Europäischen Rat und vielleicht eine neue gedeihliche Phase im deutsch-französischen Verhältnis.

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