Krisenland Libyen: UN-Sondergesandter: "Die Libyer sind müde vom Krieg und Chaos"
Ein Gespräch mit dem UN-Beauftragten Martin Kobler über die Sehnsucht der Menschen nach Normalität, das Flüchtlingselend und den Kampf gegen die Terrormiliz IS.
Herr Kobler, viele verfeindete Clans, mehrere konkurrierende Regierungen, keine staatlichen Strukturen und eine Terrormiliz im Land – ist Libyen vor dem endgültigen Zusammenbruch noch zu retten?
Ganz so schlimm ist die Lage dann doch nicht. Aus Libyen kommen auch gute Nachrichten. Da ist zum Beispiel die Ölproduktion als wichtigste Einnahmequelle des Landes. In den vergangenen Wochen konnte die Förderung für den Export von 200.000 auf 500.000 Barrel gesteigert werden. Auch politisch tut sich einiges. Der sogenannte Präsidentschaftsrat und die von den UN unterstützte Einheitsregierung arbeiten seit Monaten in Tripolis und versuchen, staatliche Institutionen aufzubauen. Aber ich gebe zu, dass es auch Probleme gibt.
Zum Beispiel?
Die Sicherheitslage ist schlecht. Das bereitet mir große Sorgen. Zum Beispiel wird Tripolis nicht von der Regierung kontrolliert, sondern von Milizen. Und aus dem Osten des Landes rückt General Chalifa Haftar – ein mächtiger Gegenspieler von Premier Fayez al Sarraj – in Richtung Westen vor. Dies birgt die Gefahr einer militärischen Eskalation. Die versuchen wir durch Gespräche zu verhindern.
Was ist derzeit Libyens größtes Problem?
Ganz klar: das Fehlen staatlicher Strukturen und starker staatlicher Institutionen, vor allem einer einheitlichen Armee und einer Polizei. Muammar al Gaddafi hat dies während seiner 42-jährigen Diktatur immer verhindert. Seit dessen Sturz 2011 hat sich daran wenig geändert. Im Gegenteil. Partikularinteressen dominieren das Land, werden über das Allgemeinwohl gestellt. Es ist letztlich ein Kampf um Macht, Einfluss und Geld, also nicht zuletzt um die Kontrolle der großen Ölvorkommen.
Was kann dem entgegengesetzt werden?
Das Friedensabkommen, mit dem der Bürgerkrieg beendet werden sollte, haben die Libyer ja selbst vor knapp einem Jahr geschlossen. Das muss umgesetzt werden, eine mühsame Kärrnerarbeit. Die Menschen haben damals gefordert, das Land müsse endlich wieder zusammengeführt werden. Dafür sind drei Institutionen vorgesehen: das Parlament in Tobruk, der Präsidentschaftsrat, der die Regierung ernennt, und der Staatsrat als eine Art zweite Kammer. Deren vorrangiges Ziel muss es sein, eine Armee aufzubauen – als Gegengewicht zu den vielen Milizen und kriminellen Gruppen.
Was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Vereinbarung nicht allein auf dem Papier steht?
Ich treffe oft einfache Libyer auf der Straße. Und die sind einfach müde. Müde vom Kampf, Krieg und Chaos. Die Leute wollen Elektrizität, Lebensmittel und Jobs. Sie wollen auch nicht, dass ihre Söhne von den bewaffneten Gruppen verheizt werden. Als Vereinte Nationen versuchen wir jenen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden.
Welche Rolle spielt Libyen für die Stabilität der Region?
Das Land muss sich jetzt erstmal selbst stabilisieren. Da hapert es noch an vielen Stellen. Das heißt aber nicht, dass das Friedensabkommen in den Mülleimer der Geschichte wandern sollte. Die internationale Gemeinschaft darf Libyen nicht allein lassen. Das gilt vor allem für die beiden Hauptprobleme Flüchtlinge und Terror. Wichtig ist dabei, strategische Geduld zu haben.
Apropos Geduld: Der Kampf der Libyer gegen den „Islamischen Staat“ (IS) scheint ins Stocken zu geraten. Woran liegt das?
Das sehe ich anders. Der Kampf gegen den IS ist recht erfolgreich.
Inwiefern?
Die Terrormiliz hat bis vor einigen Monaten im Golf von Sirte einen 240 Kilometer langen Küstenstreifen besetzt. Unter dem Kommando des Präsidentschaftsrates haben vor allem Einheiten aus der Küstenstadt Misrata mittlerweile einen großen Teil des Gebietes wieder zurückerobert, mithilfe einer Bodenoffensive und unterstützt von Luftschlägen der US-Streitkräfte. Allein auf Stellungen des IS in Sirte wurden mehr als 200 Angriffe geflogen. Inzwischen gibt es dort nur noch einige wenige Widerstandsnester. Das bedeutet zwar nicht das Ende des „Islamischen Staates“. Entscheidend ist jedoch: Die Islamisten beherrschen heute kein zusammenhängendes Territorium mehr in Libyen!
Eint die sehr heterogene Truppe, die in Sirte und anderswo kämpft, mehr als der Hass auf die „Gotteskrieger“?
Man darf nicht vergessen: Die allermeisten IS-Terroristen, die in Libyen aktiv sind, stammen aus dem Ausland, aus Ländern wie Tunesien, dem Irak, Syrien oder Marokko. Das hat militärischen Widerstand der Libyer provoziert. Übrigens ist der Anti-IS-Einsatz ein gutes Beispiel dafür, dass Regierungsgewalt akzeptiert wird. Denn die Brigaden aus Misrata haben sich dem Kommando des Präsidentschaftsrates untergeordnet.
Libyen hat noch ein anderes großes Problem: die hohe Zahl von Flüchtlingen, die das Land als Zwischenstation auf ihrem Weg nach Europa nutzen. Wie sieht deren Lage aus?
Ich besuche immer wieder die Lager, in denen die Menschen festgehalten werden – staatliche Internierungszentren. Und die Bedingungen in diesen Camps sind katastrophal, menschenunwürdig. Erst vergangene Woche war ich einem dieser Lager, die von den Behörden eingerichtet wurde.
Und?
Dort sind 500 afrikanische Flüchtlinge, darunter auch viele Minderjährige, in einem Raum mit zwei Toiletten ohne Wasser zusammengepfercht. Die hygienischen Bedingungen sind unhaltbar. Und die Leute müssen mit 600 Kalorien pro Tag auskommen. Viele Menschen sind krank und unterernährt. In den Lagern, die von den Menschenhändlern betrieben werden, sieht es noch viel schlimmer aus, wie Zeugen berichten. Das muss ein Ende haben. Die EU ist ebenso gefordert wie die libysche Regierung, diese Zustände zu beenden. Libyen ist mit Sicherheit kein Land, in das Schutzsuchende abgeschoben werden können. Das ist auch die Auffassung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen.
Wie viele Geflüchtete warten denn auf eine Überfahrt nach Europa?
In Libyen gibt es Hunderttausende von Migranten. Nicht alle wollen nach Europa, aber viele. Auf unseren UN-Listen stehen 276.000 registrierte Migranten. Allein in diesem Jahr haben schon 141.000 Menschen die gefährliche Fahrt nach Italien gewagt. Wenn die Probleme in den Ursprungsstaaten nicht angepackt werden, dann wird man den Andrang der Schutzsuchenden nicht in den Griff bekommen.
Was muss passieren?
Libyen ist ein Transitland, hierher kommen täglich tausende Menschen. Es reicht nicht aus, nur auf Repression zu setzen, um die Leute ab- und aufzuhalten. Die Bedingungen in den libyschen Lagern müssen umgehend verbessert werden. Da ist auch die EU gefordert. Niemand kann dorthin zurückgeschickt werden, wo ihm womöglich der Hungertod droht.
Reicht das aus?
Nein, es braucht auch Repatriierungs-Programme. Die Migranten, mit denen ich rede, wollen zumeist nach Hause zurückkehren. Schon heute bringen wir 500 Menschen pro Monat auf freiwilliger Basis wieder in ihre Heimat. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Das heißt aber auch: Die dortigen Lebensumstände müssen verbessert werden. Da helfen 100 Dollar als Starthilfe nicht viel weiter.
Schleuser profitieren vom Fluchtwunsch der Menschen. Wie realistisch ist es, durch den EU-Marineeinsatz die Schleppernetzwerke in Libyen zu bekämpfen?
Menschenhandel ist ein schweres Verbrechen. Der Einsatz gegen die Schleuser ist deshalb dringend notwendig. Parallel muss aber dreierlei getan werden: die Verbesserung der humanitären Situation in den libyschen Lagern, zügige Repatriierungsprogramme aus den Lagern nach internationalen Standards und die Ursachenbekämpfung in den Herkunftsländern. Nach wie vor gibt es in Libyen weder eine funktionierende Polizei noch eine effektive Küstenwache. Und die Menschenhändler nutzen dieses Chaos aus. Das muss endlich ein Ende haben.
Das Gespräch führte Christian Böhme.