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Immer wieder versuchen ISKämpfer, libysche Ölraffinerien und Förderanlagen unter ihre Kontrolle zu bringen.
© Reuters

Bürgerkriegsland Libyen: Die nächste Front

Libyen versinkt seit Jahren in Chaos und Gewalt. Jetzt hat die islamistische Regierung ihren Rückzug angekündigt. Kehrt damit Frieden ein?

Letztendlich ging alles ganz schnell. Weil die Staatengemeinschaft befürchtete, Libyens Machthaber Muammar al Gaddafi könne den Aufstand der Opposition mit Gewalt niederschlagen, entschloss sie sich im März 2011 einzugreifen. Am Ende des mehrmonatigen Militäreinsatzes unter Führung der Nato war zwar die Herrscherclique gestürzt und der Diktator von Rebellen getötet worden. Doch das Land blieb sich selbst überlassen, glitt in Gewalt und Anarchie ab. Heute ist Libyen ein Spielball zahlreicher Milizen und Interessensgruppen. Das Machtvakuum hat der „Islamische Staat“ genutzt, um sich dort festzusetzen. Beobachter warnen deshalb: Am Mittelmeer könnte ein neues Syrien entstehen.

Warum kam es 2011 zu einer Militärintervention?

Im Zuge der „Arabellion“ gab es Anfang 2011 auch in Libyen Aufstände, bei denen der Sturz von Muammar al Gaddafi gefordert wurde. Dessen Regime reagierte umgehend mit großer Brutalität. Der Despot drohte zudem öffentlich mit einem Blutbad in der Rebellenhochburg Bengasi im Osten des Landes. In vielen westlichen Staaten, die den Aufstand des Volkes gegen die arabischen Despoten mit Sympathie verfolgten, wurden Forderungen nach einer Intervention zum Schutz der Opposition laut. Vor allem die französische und britische Regierung drängten auf eine UN-Resolution zur Durchsetzung einer Flugverbotszone. Die schwarz-gelbe Bundesregierung allerdings war von Anfang an skeptisch gegenüber einem militärischen Eingreifen in Nordafrika.

Den Ausschlag für eine Intervention gaben dann die USA. Pünktlich zum Jahrestag der ersten Angriffe haben US-Medien neue Hintergründe aufgedeckt. So kommt die „New York Times“ zu dem Schluss, dass die damalige Außenministerin Hillary Clinton letztlich den Ausschlag gab, dass der zögernde Präsident Barack Obama schließlich einem Eingreifen zustimmte. Zuvor hatten US-Verteidigungsminister Robert Gates und hohe Militärs den Staatschef lange auf ihrer Seite gehabt. Sie sahen die Sicherheitsinteressen ihres Landes nicht bedroht und lehnten ein Eingreifen entschieden ab.

Anschaulich schildert die „New York Times“, wie schnell sich Obama anders entschied. Susan Rice, damals US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen in New York, rief am 15. März, zwei Tage vor der Sicherheitsratsentscheidung, ihren französischen Kollegen Gérard Araud an. „Sie werden uns nicht in Ihren beschissenen Krieg hineinziehen“, raunzte sie. Nachdem Clinton Präsident Obama umgestimmt hatte, rief die amerikanische UN-Botschafterin den Franzosen spät am Abend noch einmal an. Nun wollte sie nicht nur die Flugverbotszone, sondern eine UN-Resolution für eine weitergehende Intervention.

Wie war damals die deutsche Position?

Die Bundesregierung befürchtete, dass eine Intervention ohne ausgearbeiteten Plan für eine Versöhnung des Landes und den Aufbau von neuen politischen Strukturen Libyen und womöglich die Region ins Chaos stürzen werde. Schließlich arbeitete Gaddafi beim Kampf gegen islamistische Terroristen eng mit dem Westen zusammen und verhinderte mit harter Hand die Massenflucht von Afrikanern über das Mittelmeer nach Europa. Nach der amerikanischen Volte enthielt sich Deutschland bei der Entscheidung im Sicherheitsrat, was ihr von den Verbündeten und Beobachtern im eigenen Land scharfe Kritik eintrug.

Welche Folgen hatte die Intervention?

Die Ordnung im Land brach zusammen. Waffen aus Muammar Gaddafis Arsenalen waren überall zu haben. Kriminelle und Terrorgruppen konnten sich unbehelligt im Land und über die unkontrollierten Grenzen bewegen. Auch der Vormarsch der Islamisten in Mali 2012, der durch eine französische Militärintervention gestoppt wurde, wäre ohne das Chaos in Libyen wohl nicht möglich gewesen. Selbst Obama hält die Intervention heute für gescheitert. Das berichtet das Magazin „The Atlantic“.

Die Ursache für das Scheitern sieht der US-Präsident aber nicht bei sich selbst, sondern bei anderen. „Ich erwartete von den Europäern, die ja Nachbarn Libyens sind, dass sie sich dort in der Folge mehr engagieren würden“, sagt er mit Blick auf Paris und London, die zwar eine Flugverbotszone forderten, aber schon bald auf militärische Unterstützung der USA angewiesen waren. Zudem hätten die US-Experten unterschätzt, wie tief in Libyen die Feindschaft zwischen den Stämmen reichte. Tatsächlich ist die politische Zersplitterung bis heute ein massives Problem, mit dem der Beauftragte der Vereinten Nationen, der deutsche Diplomat Martin Kobler, bei seinen Bemühungen zur Bildung einer Einheitsregierung zu kämpfen hat.

Wie sieht es heute in Libyen aus?

Nach Gaddafis Tod – er herrschte mehr als 40 Jahre – gab es zwar zunächst Wahlen, eine neue Regierung und eine vorläufige Verfassung. Doch de facto konnte von Stabilität, geschweige denn Frieden keine Rede sein. Denn verschiedene Clans mit ganz unterschiedlichen Interessen setzten wie früher alles daran, dem jeweiligen Gegner zu schaden und selbst möglichst viel Macht zu erlangen.

So gibt es zwei verfeindete Regierungen und Parlamente. In Tripolis sitzt eine selbst ernannte islamistische Führung, in Tobruk eine international anerkannte Gegenregierung. Eine überraschende Wende gab es am Dienstagabend: Die Islamisten in Tripolis erklärten ihren Rückzug zugunsten der Einheitsregierung. Damit scheint der Weg für die von den UN vermittelte Übergangsregierung in Libyen frei. Die Islamisten begründeten ihre überraschende Entscheidung damit, dass sie weiteres Blutvergießen und eine Spaltung des Landes vermeiden wollten. Eine von den Vereinten Nationen vermittelte Einheitsregierung war vor wenigen Tagen zwar in Tripolis eingetroffen, jedoch weiter auf Widerstand aus dem Islamistenlager gestoßen. Mit der neuen Regierung unter Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch soll nun der Bürgerkrieg beendet werden. Al-Sarradsch kündigte an, Aussöhnung und die Rückkehr von Vertriebenen anzustreben. Seine Regierung werde einen Plan vorlegen und zur Zusammenführung der Bemühungen im Kampf gegen die Terrormiliz IS aufrufen.
Ob damit tatsächlich Frieden im Land einkehrt, ist aber mehr als offen. Denn die beiden bisherigen Konkurrenzregierungen beherrschen bei weitem nicht das ganze Land. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" hat in Libyen einen starken Rückhalt und in von ihr eroberten Gebieten Nordlibyens eine „Provinz“ eingerichtet. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich ungeschlagen zurückziehen wird. Auch Al-Qaida und regionale Milizen sind in Libyen aktiv.

Welche Gefahr geht vom IS aus?

Der große Profiteur das Bürgerkriegschaos ist die Terrormiliz IS. Sie hat es in den vergangenen Monaten geschickt verstanden, sich in Libyen festzusetzen – nirgendwo rücken die Dschihadisten näher an Europa heran. Bis zur Insel Lampedusa sind es keine 300 Kilometer, die italienische Küste liegt gerade mal 700 Kilometer entfernt. Inzwischen kann sich der „Islamische Staat“ laut Experten und Geheimdiensten in dem nordafrikanischen Land auf bis zu 6000 Kämpfer stützen. Tendenz steigend. Die Expansion sei besorgniserregend, warnt auch UN-Vermittler Martin Kobler schon seit Langem.

Die islamistischen Fanatiker kontrollieren nicht nur die Hafenstadt Sirte, Gaddafis Heimatort, sondern auch einen etwa 300 Kilometer langen Streifen an der Küste. Es ist das größte Gebiet außerhalb des IS-Kernlandes. Und eine willkommene Rückzugsmöglichkeit. Denn in Syrien und im Irak sind die Terroristen aufgrund der Luftangriffe in Bedrängnis geraten.

Libyen dagegen bietet immer noch ideale Möglichkeiten, um sich auszubreiten – und Nachbarstaaten wie Tunesien oder Ägypten mit Anschlägen zu destabilisieren. Dem „Islamischen Staat“ kommt dabei zweierlei zugute: Seine Gefährlichkeit ist lange Zeit unterschätzt worden. Und die Feinde des IS sind zerstritten. Doch damit will sich die Supermacht USA nicht abfinden. Fehler und Versäumnisse wie in Syrien, wo Washington vieles einfach laufen ließ, sollen sich nicht wiederholen.

Wird es wieder zu einem internationalen Militäreinsatz kommen?

Im Prinzip gibt es den schon. Allerdings findet der Anti-Terrorkampf an der libyschen Front größtenteils noch im Verborgenen statt. Vor allem die USA weiten ihr Engagement gegen den IS seit Monaten kontinuierlich aus. Gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich soll der Vormarsch der Dschihadisten gestoppt werden. Nicht zuletzt wegen der Flüchtlinge und der Terrorgefahr für Europa. Denn immer noch warten Tausende auf eine Möglichkeit, das Mittelmeer zu überqueren. Nach der Schließung der Balkanroute und dem Deal zwischen der EU und der Türkei werden es womöglich noch sehr viel mehr. Für den IS eine willkommene Gelegenheit, als Schutzsuchende getarnte Attentäter nach Europa zu schleusen.

Um die Terrormiliz davon abzuhalten, sie wenigstens zu schwächen, setzten die USA derzeit bevorzugt Drohnen ein. Ihr Ziel: Trainingscamps, Kommandozentralen und Munitionslager. Aber der Einsatz beschränkt sich nicht nur auf Luftangriffe. Mittlerweile sollen auch einige hundert amerikanische, britische und französischen Spezialkräfte am Boden aktiv sein. Zu den wichtigsten Aufgaben der Elitesoldaten gehört es, Informationen über den „Islamischen Staat“ zu sammeln. Auf eine umfassende Militäraktion gegen die Fundamentalisten will sich derzeit noch niemand einlassen. Auch weil alle libyschen Stämme Gegenwehr angekündigt haben.

Was hält Deutschland von einem militärischen Eingreifen?

Die Bundesregierung setzt nach wie vor auf einen Prozess der politischen Aussöhnung. Deutsche Vermittlung trug dazu bei, dass sich die wichtigsten Konfliktparteien im Juni in Berlin erstmals an einen Tisch setzten und im Dezember ein Abkommen über die Bildung einer Einheitsregierung unterschrieben. Bei dessen Umsetzung, die der UN-Beauftragte Kobler vorantreibt, gibt es aber immer wieder Rückschläge. Den Verzicht der regierung in Tripolis begrüßte Kobler: „Eine gute Nachricht. Nun müssen Worten Taten folgen“, schrieb Kobler auf Twitter. Die Bundeswehr in Libyen einsetzen will die große Koalition nicht. Allerdings erwägt das Verteidigungsministerium Ausbildungsmissionen für tunesische und libysche Soldaten. In Tunesien, nicht in Libyen selbst.

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