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Wladimir Putin fühlt sich als Sieger. Die EU steht blamiert da.
© AFP

Rücktrittsforderungen an EU-Außenkommissar: So läuft die EU immer wieder in Putins offenes Messer

Josep Borrell wollte mehr Dialog mit Russland. Jetzt lernt er: Der Kreml zeigt öffentlich wenig Interesse daran, zumal in einem Wahljahr. Ein Kommentar.

Auf das Debakel folgt die Suche nach einem Sündenbock. Der Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Moskau war eine peinliche Erfahrung. Die Europäische Union steht öffentlich blamiert da. Und das empfinden viele, die in dieser Union die Hoffnung und die Zukunft sehen, wie eine persönliche Beleidigung.

Das Europäische Parlament verlangt Rechenschaft von der Kommission, wie es zu der „Demütigung“ und dem „Reputationsschaden“ kommen konnte. Mehr als 70 Abgeordnete fordern Borrells Rücktritt.

Schon die Wortwahl zeigt den Kern des Problems: Emotionen statt kühler Analyse. Eine nüchterne Aufarbeitung, welche Faktoren zu der Blamage geführt haben, tut aber Not, wenn die EU nicht wieder und wieder derart vorgeführt werden möchte.

Die wichtigsten vier Gründe: Wladimir Putin hat keinen Respekt vor der EU, anders als vor den USA. Das liegt auch daran, dass die EU ihr positives Selbstbild mit dem Bild verwechselt, das sich andere, zumal gegnerische Mächte von ihr machen. Die EU hat, drittens, potenzielle Macht, bringt sie aber selten auf die Waage, weil sie die Kunst der Machtpolitik weniger gut beherrscht als Mächte wie Russland oder die USA. Die haben seit Jahrhunderten trainiert, oberhalb ihrer Gewichtsklasse zu boxen. Die EU möchte zudem, viertens, supranational agieren in einer Welt, in der die wichtigsten anderen Akteure internationale Beziehungen als ein Aktionsfeld von Nationalstaaten betrachten.

Diese strukturellen Faktoren haben sich bei Borrells Reise nach Moskau doppelt destruktiv ausgewirkt, weil der Außenbeauftragte einen angeblichen Auftrag ausführen wollte, den er nicht hatte – mit Hilfe einer Strategie, die ebenfalls fehlt. Und weil das Vorgehen des Kreml gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny und seine Anhänger die Lage zusätzlich komplizierte. Die EU kann keine strategische Russlandpolitik verfolgen, solange ihre Mitgliedsstaaten derart gespalten in ihren Meinungen sind, wie der Kurs gegenüber dem Kreml aussehen sollte.

Deutschland verfolgt Sonderinteressen wie Nord Stream

Dabei geht es um Prinzipielles: Wie distanziert, wie kooperativ soll das Verhältnis sein. Und im operative Fragen. Polen, die baltischen Staaten und Rumänien hatten Borrell von der Reise abgeraten. Deutschland, Frankreich und die Niederlande unterstützten seine Absicht, aus übergeordneten Interessen zu sondieren, auf welchen Feldern die EU mit Russland trotz der offenkundigen Konflikte zusammenarbeiten könne. Zum Beispiel bei der Wiederbelebung des Atomabkommens mit dem Iran, dem Klimaschutz, der Coronapolitik und der Terrorabwehr.

Weiter kompliziert wird das Gesamtbild durch nationale Sonderinteressen. Deutschland, zum Beispiel, möchte den Bau der Gas-Pipeline Nord Stream 2 nicht stoppen, obwohl die EU-Partner das mehrheitlich verlangen. Und nun vermengt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die aktuellen Konflikte mit Putins Russland mit der historischen Verantwortung für die Kriegsopfer der Sowjetunion auf eine bedenkliche Weise, die die Ukraine verständlicherweise empört.

Moskau legt es auf eine Demütigung Borrells an

Zur Kooperation gehören mindestens zwei. Was auch immer aus Sicht der EU, Borrells und ihrer Unterstützer für diese Reise sprach, im Rückblick muss man nüchtern festhalten: Wladimir Putin hat sie ins offene Messer laufen lassen. Er wollte keinen erfolgreichen Besuch, er hat es auf die Demütigung angelegt.

Habe ich richtig gehört? Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrelll wurde von Sergej Lawrow auf offener Bühne vorgeführt.
Habe ich richtig gehört? Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrelll wurde von Sergej Lawrow auf offener Bühne vorgeführt.
© dpa

Vier klare Hinweise: Putin empfängt Borrell erst gar nicht, sondern Außenminister Sergej Lawrow. Am Tag der gemeinsamen Pressekonferenz weist Russland europäische Diplomaten aus, ein gezielter Affront mit fadenscheiniger Begründung. Diese Personen hätten angeblich an illegalen Demonstrationen für den Oppositionellen Alexej Nawalny teilgenommen. Das ist falsch, sie haben nicht für Nawalny demonstriert, sondern die Kundgebung der Opposition beobachtet; das gehört zu den Aufgaben von Diplomaten, um sich ein Bild von der Lage in ihrem Gastland zu machen. Drittens startete der Kreml am gleichen Tag einen weiteren Prozess gegen Nawalny, ebenfalls mit dürftigem Vorwand: Der habe Veteranen beleidigt. Viertens griff Lawrow die EU auf der Pressekonferenz scharf an; sie sei „unzuverlässig“.

Handelt ein Gastgeber so, der mit seinem Gast in ein konstruktives Gespräch kommen möchte? Je nachdem, wie er den Gast einschätzt. Die USA nimmt Putin ernst. Mit dem neuen Präsidenten Joe Biden einigte er sich rasch auf eine Verlängerung des Start-Abrüstungsvertrags; Trump hatte er da noch hingehalten.

Das Wunschbild: umworben werden und dann die kalte Schulter zeigen

Warum behandelt er die EU so respektlos? Weil er kalkuliert, dass er das tun kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Und weil er selbst stärker aussieht, wenn er sein Gegenüber als schwach vorführt. Er möchte sich seinen Bürgern angesichts der zunehmenden Proteste im Land als starker Anführer zeigen. Es ist ein Wahljahr.

Die EU hätte voraussehen müssen, dass es so kommen kann. Das Muster ist nicht neu. Putin geht seit Jahren so vor. Er möchte die gemeinsamen Bilder haben, um den Russen zu zeigen. Wir sind nicht isoliert; wir sind wichtig. Zugleich soll es so aussehen, als sei Russland umworben, lasse sich seine Ehre aber nicht abkaufen. Deshalb die kalte Schulter.

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Jahr für Jahr kommt Lawrow zur Sicherheitskonferenz nach München, um eine „Abkotzrede“ zu halten. Der Westen sei doppelzüngig, ehrlos, habe keine Moral. Er versteigt sich zu gewagten Thesen. Die deutsche Einheit sei erzwungen worden und undemokratischer verlaufen als die Annexion der Krim. Denn auf der Krim habe es ja wenigstens ein Referendum gegeben. Eine Rede in München, gerichtet ans Publikum daheim.

Hinter den Kulissen, ohne Kameras, nutzt Lawrow die Konferenz, um mit Vertretern anderer Staaten über Konflikte zu verhandeln, die eines Minimums an Absprachen bedürfen, von der Ukraine über Syrien bis Afghanistan.

Kremlmacht beruht darauf, Konflikte nicht zu lösen

Russland lebt von diesem Doppelbild. Es ist interessant, weil es für Konflikt steht und Probleme machen kann. Seine Bedeutung stützt sich auf destruktive Macht. Als konstruktiver Akteur ist Moskau weit weniger attraktiv. Denn es trägt wenig zu Konfliktlösung, Wiederaufbau und  Versöhnung bei. Warum auch. Ist ein Konflikt gelöst, braucht man Russland nicht mehr. Russland hat ein nachvollziehbares Interesse daran, dass Konflikte nicht gelöst werden, sondern weiter schwelen. Das gehört zum Fundament seiner Großmachtrolle, obwohl es doch ökonomisch gar keine Großmacht ist, sondern für nur drei Prozent der Weltwirtschaft steht.

Da liegt das eine Missverständnis mit Westeuropa und speziell der EU. In westlichen Demokratien und speziell in Brüssel versteht man Einfluss ohne langes Nachdenken als Hilfsbereitschaft. Internationale Beziehungen sind dazu da, die Welt friedlicher und besser zu machen. Wenn man dazu beiträgt, Kriege zu beenden, zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen, wenn man Rechtsstaat, Demokratie, Minderheitenschutz und Transparenz fördert, hilft das Menschen und schafft Dankbarkeit. Auf diesem Ansatz beruht die Soft Power des Westens.

Wie Moskau das Fehlen von Soft Power kompensiert

Mächte wie Russland denken und handeln anders. Sie orientieren sich an Machtfragen. Nützt uns eine Entwicklung, stärkt sie oder schwächt sie den eigenen Einfluss? Gewiss ist dieses Denken auch westlichen Großmächten nicht fremd, voran den USA, aber auch Frankreich und Großbritannien. Der Unterschied zu Russland: Der Westen verfügt neben der Hard Power über Soft Power. Russland fehlt die Soft Power; es kann fast nur Hard Power einsetzen, also mit der Drohung agieren, dass es anderen Schaden zufügen kann, wenn die sich nicht so verhalten, wie Moskau es verlangt.

Diese Kategorie der Machtpolitik, das Drohen mit Nachteilen, ist der EU eher fremd. Zur Machtpolitik gehören zwar „carrott and stick“, positive wie negative Anreize. Aber die EU bedient sich zumeist nur einer der beiden Möglichkeiten, der Aussicht auf Hilfe.

Typischer Irrtum: Von sich auf andere schließen

Menschen begehen generell gerne den Irrtum, dass sie ihre eigene Sicht auf andere übertragen. Die Risikoanalyse – und was, wenn Putin ganz andere Absichten mit Borrells Besuch in Moskau verfolgt – kam bei der Vorbereitung in Brüssel offenkundig zu kurz.

Das andere verbreitete Missverständnis in der Außenpolitik der EU: Sie hält sich selbst für eine höhere Stufe der staatlichen Entwicklung. Europäische Nationalstaaten, selbst so mächtige wie Deutschland und Frankreich, sind im globalen Maßstab zu klein, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Zusammenschluss in der EU ist die logische nächste Stufe.

Klassische Nationalstaaten wie China, Russland und die USA halten die EU hingegen für eine Anomalie. Ein interessantes Experiment, aber irgendwie widernatürlich. Staaten und Nationen haben Interessen. Warum sollte ein Nationalstaat Souveränitätsrechte an eine supranationale Organisation abgeben? So was tut man nicht.

Die EU als Anomalie oder als höhere Stufe von Staatswesen

In ihrer außenpolitischen Praxis sind sie mit bilateralen Beziehungen zudem erfolgreicher. Mit der Bündelung seiner Beziehungen zu Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Spanien kommt Russland, kommt China, kommen die USA aus ihrer Sicht weiter als durch Absprachen mit einer EU, die sie als ökonomisches Machtzentrum ohne einheitlichen internationalen Willen erleben.

Eine Ausnahme sind Handelsfragen. Auch die würde Chinas Präsident Xi – und wollte auch ein Donald Trump - lieber bilateral mit Deutschland, Frankreich, Italien etc. je einzeln regeln. Beide erhielten jedoch die Antwort: Das geht nicht, die Zuständigkeit für Handel liegt bei der EU.

Der Ausgang: Brüssel zerfleischt sich statt zu lernen

Was lernt die EU daraus? Borrell wird wohl kaum zurücktreten. Er hat in Moskau zwar kein gutes Bild abgegeben. Aber die eigentliche Ursache der Blamage liegt nicht in seiner Person, sondern im Brüsseler Bild von Machtpolitik und der Rolle der EU.

Die EU muss lernen, sich Respekt zu verschaffen. Dass sie nett und hilfreich sein kann, hat sich herumgesprochen. Aber wer glaubt, dass sie Konfliktführung beherrscht und richtig unangenehm werden kann?

Putin sieht keinen Grund, die EU ernst zu nehmen. Sie präsentiert sich ihm als aufgeregter Hühnerhaufen. Selbst jetzt, nachdem er die EU gedemütigt hat, sprechen ihre Politiker nicht darüber, wie sie Putin eine Lehre erteilt. Sondern bietet ein Bild der Schwäche durch internen Streit über Borrells Reise. Ein Putin würde vergleichbare Risse in Russlands Fassade nicht gestatten.

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