„Zeitenwende“ für die Bundeswehr?: Scholz hat seine Zusagen schon wieder einkassiert
Die versprochenen zwei Prozent Wehretat fehlen in der Finanzplanung 2022 und der für die nächsten Jahre. Auch das Sondervermögen wackelt. Eine Analyse.
Ist die Zeitenwende schon wieder abgesagt? In der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine am 27. Februar hatte Bundeskanzler Olaf Scholz in einem viel beachteten Auftritt eine Zeitenwende bei der Finanzierung der Bundeswehr angekündigt.
„Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Und: ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro einrichten „für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“.
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In den sechs Wochen seither haben die Koalitionsparteien diese Ankündigung Stück für Stück zurückgenommen. Dies geschieht, während tagtäglich Nachrichten und Bilder eines brutalen Krieges in Europa auf die Bundesregierung, den Bundestag, die Bürgerinnen und Bürger einprasseln.
Was wird von den Zeitenwende-Zusagen noch übrig sein, wenn Deutschland sich an den Krieg gewöhnt hat? Oder wenn vielleicht eine brüchige Waffenruhe herrscht, aber jederzeit ein neuer Angriff Putins droht.
Die Union beschuldigt Lindner und die FDP: „Eine herbe Enttäuschung“
Von einer Erhöhung des Etats auf zwei Prozent des BIP zur Finanzierung des laufenden Betriebs ist bereits keine Rede mehr. In den Haushaltsentwürfen für 2022 und die Folgejahre, die das Kabinett und der Bundestag im März berieten, ist die Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf „mehr als zwei Prozent“ nicht zu finden.
Wäre das Ziel ernst gemeint, würden sich mehr als 72 Milliarden Euro ergeben. Der Etat bleibt jedoch gedeckelt bei den gut 50 Milliarden Euro, die bereits vor dem Ukrainekrieg geplant waren. Dieser Betrag entspricht etwa 1,4 Prozent vom BIP.
Bei den 50 Milliarden soll es auch für die Folgejahre bleiben. Deutschland ist offenbar verliebt in den Status quo.
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Verteidigungsexperten der Union bestätigen diese Fakten und bewerten das Rückrudern des Kanzlers und seiner Koalitionspartner im Gespräch unter vier Augen als skandalös. Manche bezeichnen vor allem die FDP des Finanzministers Christian Lindner als „eine herbe Enttäuschung“.
Sie blasen aber noch nicht zur öffentlichen Attacke. Sie hoffen, in Gesprächen über die Grundgesetzänderung, die für das Sondervermögen nötig ist, eine bessere Lösung für die Bundeswehr zu erreichen.
Verteidigungsexperten der Ampel sprechen von einem „Missverständnis“
Fachleute der Ampel sprechen neuerdings von einem „Missverständnis“. Scholz habe nicht ein Sondervermögen plus die Erhöhung des Verteidigungsbudgets angekündigt. Sondern das Sondervermögen bedeute die Erhöhung des Etats von gut 50 auf über 70 Milliarden Euro und damit auf mehr als zwei Prozent vom BIP. Auf dieses Ergebnis komme man, wenn man die 100 Milliarden Euro Sondervermögen auf die laufenden Etats von vier bis fünf Jahre verteile.
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Merkwürdig nur: Damals, am 27. Februar, hatten die deutschen Medien Scholz zum Großteil anders verstanden, vom Tagesspiegel über die FAZ und den Vorwärts bis zur Tagesschau: Es gehe um einen höheren Etat plus das Sondervermögen. Die andere Interpretation, das Sondervermögen sei zugleich die Erhöhung, fand sich auch, war aber nicht die dominante Darstellung.
Die Bundeswehr braucht auch beides. Erstens das Sondervermögen, um die versäumten Investitionen in Gerät zu finanzieren. Das sagen auch Verteidigungsfachleute der SPD im vertraulichen Gespräch. Die Lücke beläuft sich in den drei Jahrzehnten seit der Wende 1989 und der Ausrufung eines ewigen Friedens in Europa auf ungefähr tausend Milliarden, das Zehnfache des Sondervermögens.
Wie werden Kampfjets, Raketenabwehr und EU-Projekte bezahlt?
Das Verteidigungsministerium möchte neue Kampfjets und Raketenabwehr anschaffen. Und dazu die Entwicklung gemeinsamer europäischer Rüstungsprojekte bezahlen: den nächsten Kampfwagen, den neuen Hubschrauber und „Fcas“, das Future Combat Air System.
Zweitens braucht die Bundeswehr einen laufenden Etat von rund zwei Prozent. Denn das haben die meisten inzwischen verstanden: Die jahrelange Unterfinanzierung ist – neben skandalösen Mängeln im Beschaffungssystem – die Hauptursache, warum die deutschen Streitkräfte in dem Zustand sind, den Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz wenige Tage vor Kriegsbeginn beklagte. „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind.“
Bisher müssen sich Einheiten, die in Einsätze geschickt werden, die nötige persönliche Ausrüstung, Fahrzeuge, Waffen und Munition bei anderen Einheiten zusammen leihen, die zuhause bleiben und dann selbst blank sind.
Höhere Gehälter und Treibstoffpreise überfordern den Etat
Parallel wachsen die Personalausgaben wegen der Tarifverträge. Benzin, Diesel und andere Betriebsstoffe werden auch für die Bundeswehr teurer. Schon alleine diese beiden Kostenzuwächse dürften acht bis zehn Prozent des laufenden Etats verschlingen – oder, da der Etat ja nicht erhöht wird, eine Summe, die rund vierzig Prozent des Sondervermögens entspricht, über vier bis fünf Jahre gerechnet.
Da ist noch kein Stück neue Ausrüstung gekauft. Die Weltlage aber bleibt auch über Putins Krieg hinaus bedrohlich.
Zudem: Wie geht es nach Amtszeit dieser Koalition 2025 weiter, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist, aber der Wehretat gedeckelt bleibt? Die Herausforderung, dauerhaft zwei Prozent vom BIP für Verteidigung einzuplanen, überlässt die Regierung schon heute als ungelöstes Problem ihren Nachfolgern.
Ist auch Kultur Sicherheitspolitik im Sinn des Sondervermögens?
Doch es kommt noch schlimmer. Die Ampel-Parteien tragen nicht einmal die abgespeckte Neudefinition der Zeitenwende geschlossen mit: dass das Sondervermögen als Erhöhung des gedeckelten Wehretats gedacht ist und komplett an die Bundeswehr geht. Längst hat der 100-Milliarden-Topf andere Begehrlichkeiten geweckt, noch bevor das Parlament ihn eingerichtet hat.
Er sei für Sicherheit in einem breiteren Verständnis gedacht, heißt es jetzt. Zum Beispiel auch für den Zivilschutz, der ebenfalls seit drei Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Und für den Schutz ziviler Datennetze gegen Cyberangriffe.
Oder für feministische Außen- und Sicherheitspolitik, denn die sei „kein Gedöns“. Und Kulturpolitik sei auch Sicherheitspolitik, verkündet Claudia Roth.
Wladimir Putin darf sich ins Fäustchen lachen. Er setzt auf militärische Stärke. Von dieser Bundesregierung hat er Wehrbereitschaft und Abschreckung wohl nicht ernsthaft zu fürchten.