Drastische Kehrtwende der Bundesregierung: Der Tag, an dem in der Außenpolitik nichts mehr ist, wie es war
Die Bundesregierung liefert nun doch Waffen in die Ukraine. Es bleibt nicht die einzige weitreichende Kurskorrektur. Das zeigte sich am Sonntag im Bundestag.
Die Rede des Bundeskanzlers wird von Applaus unterbrochen, als er auf die Sache mit den Waffen zu sprechen kommt. Deutschland werde Waffen zur Verteidigung der Ukraine liefern, sagt Olaf Scholz am Sonntagmorgen im Bundestag, der wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine zu einer Sondersitzung zusammengekommen ist.
Von einer „Zeitenwende“ hat der Sozialdemokrat zuvor gesprochen, mehrere andere Redner nennen später die Sitzung historisch. Nicht nur die Abgeordneten der Ampel-Parteien klatschen nach der Ankündigung, sondern auch die der Union. „Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen“, betont Scholz. „Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben.“
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Mehr sagt der Kanzler in seiner Regierungserklärung nicht zu einem Thema, bei dem er am Abend zuvor eine Kehrtwende gemacht hat. Denn noch bis zuletzt hatte die Bundesregierung eine Lieferung von Waffen in die Ukraine kategorisch ausgeschlossen und sich dabei entweder auf die deutsche Geschichte oder auf rechtliche Probleme berufen. Immer drängender waren die Bitten aus der Ukraine geworden.
Besonders Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin, mahnte wieder und wieder die Lieferung von Defensivwaffen an, manchmal in eher undiplomatischen Worten. Als ihn Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) am Sonntag auf der Tribüne begrüßt, klatschen ihm die Abgeordneten stehend Beifall – stellvertretend für die Menschen in der Ukraine, deren Land am Donnerstag von Russland überfallen worden war. Nur die AfD-Politiker bleiben sitzen.
Partner Deutschlands machten Druck
Nicht nur die Ukrainer, auch die Partner Deutschlands in der EU und der Nato hatten in den vergangenen Wochen bestenfalls mit Unverständnis auf die deutsche Weigerung reagiert, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. „Eine Art Witz“ sei es, dass die Deutschen der Ukraine nur 5000 Helme geliefert hätten, sagte Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki am Samstag vor seinem Treffen mit Scholz.
Zugleich warf er Deutschland „steinernen Egoismus“ vor, weil die Bundesregierung auch Einwände geäußert hatte, als es darum ging, Russland vom Zahlungssystem Swift abzukoppeln. Morawiecki war mit dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda nach Berlin gereist, um die Bundesregierung zu einer Zustimmung für harte Sanktionen zu bewegen.
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Als Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am frühen Donnerstagnachmittag zum Gespräch in der ukrainischen Botschaft in Berlin eintrifft, um den Menschen in der Ukraine sein Mitgefühl auszusprechen, sieht er sich ein weiteres Mal mit der Forderung aus Kiew konfrontiert. „Wir werden keine Waffen in die Ukraine liefern“, sagt er kurz nach seinem Gespräch mit dem Botschafter auf Nachfrage. Für Rüstungsexporte ist sein Wirtschaftsministerium zuständig.
Etwas mehr als 48 Stunden später hat die Bundesregierung angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine ihre Entscheidung revidiert.
Am Samstag stimmen Kanzleramt, Auswärtiges Amt, Wirtschafts- und Verteidigungsministerium die Details ab, kurz vor 19 Uhr macht der Regierungssprecher Steffen Hebestreit das Ergebnis öffentlich: 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 „Stinger“-Raketen soll die Ukraine aus Bundeswehr-Beständen erhalten. Außerdem sollen aus Deutschland bis zu 10.000 Tonnen Treibstoff sowie 14 gepanzerte Fahrzeuge über Deutschland in die Ukraine geliefert werden.
Waffen sollen so schnell wie möglich in die Ukraine
Wann die Waffen in dem bedrängten Land eintreffen sollen, war am Sonntag noch unklar. Es würden ressortübergreifende Absprachen getroffen, die Lieferung solle „so schnell wie möglich“ erfolgen, hieß es im Verteidigungsministerium. Da die Flughäfen gesperrt sind, müssen die Panzerabwehrwaffen und „Stinger“-Raketen auf dem Landweg durch Polen an die Grenze gebracht werden.
In seiner Rede im Bundestag am Sonntag zeigt sich Habeck emotional berührt von den Ereignissen in der Ukraine. Er ist der einzige Vertreter der Koalition, der an diesem Tag Selbstkritik erkennen lässt. „Es sind sicherlich rückblickend Fehler gemacht worden, auch das gilt es aufzuarbeiten.“ Es habe „genug warnende Stimmen" gegeben. „Wir waren politisch nicht wachsam und nicht klar genug, darauf zu antworten.“
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Schon bei einem Besuch in der Ukraine im Mai vergangenen Jahres habe er die Frustration dort über die unklare Haltung des Westens gespürt, sagt der Wirtschaftsminister im Bundestag. Unter dem Eindruck seiner Reise in den Donbass hatte der damalige Grünen-Chef in einem Interview gesagt, Waffen zur Verteidigung könne man der Ukraine „schwer verwehren“.
Nach seiner Rückkehr hagelte es massive Kritik, auch aus seiner eigenen Partei, die aus der Tradition der Friedensbewegung kommt und Rüstungsexporte grundsätzlich kritisch sieht.
Man kann Habeck beim Abwägen und Zweifeln zusehen
Wie schwer die Entscheidung nun den Grünen gefallen sein muss, lässt Habeck nun im Bundestag durchaus erkennen. Man kann ihm am Rednerpult beim Abwägen und auch beim Zweifeln praktisch zusehen. Er achte die Position des „unbedingten Pazifismus“, aber er halte sie für falsch, sagt der Wirtschaftsminister. „Denn schuldig werden wir trotzdem, wir kommen mit sauberen Händen aus der Sache nicht raus.“
Deswegen sei die „Korrektur“ der Politik der Bundesregierung, nämlich Waffen zu liefern, richtig. Die Entscheidung sei richtig – „aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner. Und ich weiß es auch nicht.“
Denn unklar sei, wie sich der Krieg entwickele, ob Deutschland dann nicht auf lange Zeit Waffen liefern müsse für einen dauerhaften Krieg in Europa. Von einer „außenpolitischen 180-Grad-Wende“ spricht Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Bundestag. „Wir dürfen die Ukraine nicht wehrlos dem Aggressor überlassen.“
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Die Zustimmung zu Waffenlieferungen ist aber keineswegs die einzige Kehrtwende, die die Bundesregierung an diesem Wochenende macht. Noch am Freitagabend hat Baerbock in einem ARD-Interview die deutschen Argumente gegen einen Ausschluss Russlands von Swift ausführlich dargelegt.
Einen Tag später stimmt die Bundesregierung zu, allerdings wird es kein Total-Ausschluss Russlands von dem Zahlungssystem – und damit auch keine vollständige Kehrtwende. Mehrere russische Banken werden vom Swift-System abgekoppelt. Diese Sanktion sei so angelegt, dass das „System Putin“ getroffen werde, aber kein „Bumerang auf uns zurück“ komme, betont Baerbock im Bundestag.
In seiner Regierungserklärung kündigt Scholz noch etwas an, was einer Kehrtwende gleichkommt und womit er die Opposition überrascht: In diesem Jahr will die Bundesregierung 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Ausrüstung der Bundeswehr ausgeben.
Zudem kündigte der Kanzler an, künftig jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Verteidigung zu investieren – ein Nato-Ziel, das Deutschland bisher noch nicht ein einziges Mal erreicht hat. Scholz macht deutlich, dass es ihm bei dieser Entscheidung nicht nur um Nato-Verpflichtungen geht: „Wir tun das auch für uns, für unsere eigene Sicherheit.“
Nun ist es der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der in seiner Rede etwas verteidigen muss, was seinen bisherigen Überzeugungen zuwiderlaufen dürfte. Man müsse die Bundeswehr in die Lage versetzen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
Der Sozialdemokrat, der bisher eine der vernehmlichsten Stimmen gegen „immer mehr Aufrüstung“ war, sagt nun Sätze wie diesen: Der Verteidigungshaushalt sei bereits in der Vergangenheit erhöht worden. „Wir werden das auch in Zukunft verantwortungsvoll tun.“
Der Krieg in der Ukraine bedeute das Scheitern aller bisherigen diplomatischen Bemühungen. „Das ist bitter“, sagt Mützenich. „Das sage ich als jemand, der bis zum Schluss alle politischen Mittel nutzen wollte.“ Der Fraktionschef hatte kürzlich noch gefordert, die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen.
Zugleich hatte er sich mit Botschafter Melnyk einen Schlagabtausch geliefert. Doch an diesem Sonntag, am Tag vier des russischen Krieges in der Ukraine, scheint das alles sehr lange her zu sein.