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Wolfgang Ischinger, der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz
© imago images/Metodi Popow

Wolfgang Ischinger über einseitige Abrüstung: „Helmut Schmidt würde sich im Grabe umdrehen“

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz warnt vor außenpolitischer Blauäugigkeit. Ein Interview über neue Waffen, alte Interessen und die Angst vor Russland.

Wolfgang Ischinger gilt als der Mann der deutschen Sicherheitspolitik, der die großen Namen einmal im Jahr in München an den Tisch holt. Geboren 1946 im baden-württembergischen Beuren trat er nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Bonn, Genf und Harvard 1973 in den Auswärtigen Dienst ein, Er war unter anderem Deutscher Botschafter in Washington und London.2008 übernahm er von Horst Teltschik die Münchener Sicherheitskonferenz und internationalisierte sie. Nur Donald Trump war bisher nicht dabei.

Vor der 56. Auflage erholte er sich beim Skifahren in Lech - und fuhr auch mit den früheren Profis Rosi Mittermaier und Christian Neureuther eine Runde - im Interview mit dem Tagesspiegel warnt er eindringlich, dass dem Reden von "Mehr Verantwortung übernehmen" auch Taten folgen müssen.

Herr Ischinger, in was für einer Welt leben wir gerade?
Die Welt wird gefährlicher, von der klassischen militärischen Sicherheit und den regionalen Krisen bis zu moderneren Aspekten wie Klima, Energie, globale Gesundheit. Das hängt u a auch mit einem fundamentalen Vertrauensverlust in der internationalen Politik zusammen.

Wer verliert das Vertrauen zu wem?
Das gilt in alle Richtungen. Die USA und die Nato verlieren das Vertrauen in Russland, weil Verträge nicht verlässlich eingehalten werden, etwa bei nuklearer Rüstungskontrolle, oder denken Sie an die Ukraine. Das gilt auch in umgekehrter Richtung: Russland zweifelt am guten Willen des Westens. Zugleich wird der Westen weniger westlich. Prinzipien, die als belastbar galten wie Rechtsstaatsgrundsätze, objektive Wahrheiten, Fakten, gelten nur noch bedingt. Auch das Vertrauen innerhalb der Europäischen Union erodiert, zum Beispiel mit Blick auf Polen und Ungarn. Das Vertrauen in China sinkt. China ist im Zuge seines Aufstiegs nicht zum Stakeholder des liberalen internationalen Systems geworden, wie wir alle gehofft hatten, sondern entwickelt sich in seine eigene Richtung, eher weg vom Westen. Das alles hat Folgen für unsere Sicherheit.

Welche neuen Waffen machen Ihnen besonders Sorge?
Wir erleben eine Revolution von einer Dimension wie im Ersten Weltkrieg, als sich Reiter-Einheiten plötzlich Panzern gegenübersahen. Die Entwicklung von unbemannten Flugkörpern und bewaffneten Drohnen ist ein Beispiel: das verändert Luftkrieg und Luftabwehr dramatisch. Die klassische Vorstellung, dass ein Pilot in einem Flugzeug irgendwohin fliegt und ein gegnerisches Flugzeug abschießt oder Bomben abwirft, ist aus dem letzten Jahrhundert. Unbemannte Systeme mit Künstlicher Intelligenz werden die Herausforderung der Zukunft sein!

Auch da wird alles gefährlicher?
Ja, auch nukleare Risiken steigen leider. Rüstungskontrollverträge werden gekündigt oder nicht verlängert. Es gibt Sorgen angesichts angeblicher russischer militärstrategischer Überlegungen, im Falle eines Konflikts sehr frühzeitig Atomwaffen einzusetzen, um dem Gegner gleich zu Anfang den Schneid abzukaufen. Eskalation zur Erzwingung der Deeskalation, sozusagen. Sie zielen darauf, dass der Krieg am Tage zwei zu Ende ist. Es wäre dann aber vermutlich auch das Ende unserer Zivilisation und übrigens auch aller Bemühungen um Klimapolitik. Ich bin wegen der schlechten Beziehungen zwischen den nuklearen Großmächten USA und Russland durchaus besorgt. Unter Clinton und auch noch danach gab es Gespräche auf vielen Ebenen, vertrauensbildende Maßnahmen, Austauschprogramme der Generäle. Das ist zum Erliegen gekommen.

Was kann Deutschland beitragen?
Es wird keine schnellen Erfolge geben, da mache ich mir keine Illusionen. Wir haben übrigens vergeblich versucht, die nordkoreanische Führung nach München einzuladen. Der iranische Außenminister wird in München wohl kaum ein nachgebessertes oder erweitertes Atomabkommen vorschlagen. Da bewegt sich wohl kaum etwas, jedenfalls nicht vor der US-Wahl im November. Aber wir wollen den Dialog am Leben erhalten, dann ist das Atomabkommen jedenfalls nicht endgültig tot. Und das wäre schon ein Gewinn. Am Ende kriegen wir die USA und den Iran nur wieder an einen Verhandlungstisch, wenn wir über das alte Abkommen hinaus gehen und mit dem Iran auch über ballistische Raketen, regionale Sicherheit und Terrorakte der Hisbollah, verhandeln könnten. Und wenn die USA von "Maximum Pressure" auf Verhandlungen umschalten würden.

In Libyen hat Deutschland die Initiative ergriffen. Gut so?
Natürlich ja Es kommt jetzt aber darauf an, wie nachhaltig dieser Ansatz ist. Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, gut und richtig. Aber was heißt das ganz konkret? Es ist jetzt bereits sechs Jahre her, dass Bundespräsident Gauck diesen Anspruch in München erhoben hat. Im Kern geht es doch darum: Was müssen wir für die Sicherheit Europas tun? Sind wir bereit, mehr zu tun? Und was genau? Über einzelne Schritte der letzten Jahre freue ich mich. Die Unterstützung der Peschmerga im Irak wäre vor Gaucks Rede kaum vorstellbar gewesen. Die Libyen-Konferenz in Berlin war ein beachtlicher und lobenswerter Schritt, aber leider nicht hinreichend.

Wie kriegen wir die Konfliktparteien doch noch an einen Tisch? Wie bringe ich sie zur Überzeugung, dass sie den Sieg mit militärischen Mitteln nicht mehr erreichen können? Vorher gibt es keine Bereitschaft zum Frieden, das habe ich bei den Bosnien-Verhandlungen in Dayton schon vor 25 Jahren gelernt. Die EU, die als nächster Nachbar das größte Interesse hat, sollte jetzt erstmal einen namhaften Libyen-Unterhändler ernennen, nicht um dem EU-Außenkommissar Borrell oder dem Unterhändler der Uno Konkurrenz zu machen, sondern um sie zu unterstützen und um die EU als Einheit auftreten zu lassen. Das könnte zum Beispiel ein ehemaliger Regierungschef sein wie der Schwede Carl Bildt.

Libyen: Karte mit Machtverteilung im Land.
Libyen: Karte mit Machtverteilung im Land.
© AFP

Muss man nicht mal den Nachschub an Waffen unterbinden?
Die Teilnehmer der Libyen-Konferenz in Berlin haben sich auf ein Waffenembargo verständigt, nicht aber auf Modalitäten seiner Durchsetzung. Das müsste nun der Uno-Sicherheitsrat, in dem Deutschland zurzeit Mitglied ist, verbindlich bekräftigen und mit einer Strafandrohung versehen. Es ist zu klären: Wer kontrolliert die Einhaltung des Embargos? Zu Luft, zu Lande, auf See?

Wer kann - zum Beispiel mit Awacs-Flugzeugen oder ähnlichen Instrumenten - die unendlich langen Grenzen Libyens aus der Luft überwachen? Könnte zum Beispiel die EU die Seegrenzen überwachen? Eventuell muss der reiche Westen dafür ein wenig in die Tasche greifen. Das ist krisenpolitisches Hochreck. Wenn hingegen niemand mit Sanktionen rechnen muss, werden die Waffenlieferungen fröhlich weitergehen.

Wie nehmen sie die Rolle Russlands wahr: mehr Störenfried oder Konfliktlöser?
Putin hat seit seiner Brandrede auf der Sicherheitskonferenz 2007 getan, was er sich vorgenommen hat: dem aus seiner Sicht unverantwortlich vorgehenden Westen, angeführt von den USA, einen Riegel vorzuschieben, indem er die russische Fähigkeit, eigene Interessen durchzusetzen, nachhaltig stärkt. Russland setzt sich, egal wie hoch der moralische Preis ist, gegen Regimewechsel ein. Putin stützt sogar das syrische Regime. Er möchte verhindern, dass der Westen, wie zum Beispiel 2011 in Libyen, die strategische Landschaft zulasten Russlands verändert. Diese Außenpolitik war insoweit durchaus erfolgreich.

Dagegen hat Putin es kaum geschafft, mehr soft power zu entwickeln, belastbare Allianzen zu gründen und Russland innovativ zu modernisieren. Mit wem ist Russland heute denn richtig gut befreundet? Vor Chinas künftiger Weltmachtstellung hat Russland vermutlich insgeheim Angst; Russland selbst ist ansonsten von Ländern umgeben, die ihrerseits fast alle eine gewisse Sorge vor Russland haben. Die Ukraine war mal Russlands engstes Bruderland - heute hat die Ukraine Angst vor Russland. Soft Power, Innovation und dauerhafte Allianzen werden im 21. Jahrhundert aber immer wichtiger, wichtiger noch als klassische Militärmacht.

Der russische Präsident Wladimir Putin mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad
Der russische Präsident Wladimir Putin mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad
© AFP

Atomwaffen werden wieder zum Thema. Deutschland braucht neue Flugzeuge für die nukleare Teilhabe mit den USA? Es gibt auch Vorschläge, auf die nukleare Abschreckung durch Frankreich zu setzen.
Das Thema ist hochsensibel. Unsere östlichen Nachbarn setzen, für mich nachvollziehbar, voll auf die Nato und misstrauen Russland, erst recht nach dem Krieg in der Ukraine. Macrons "Hirntot"-Analyse verunsichert sie. Aber Macrons Ärger kann ich gut verstehen nach seiner Erfahrung mit zwei großen Bündnispartnern: Die USA ziehen sich ohne Absprache aus Syrien zurück, die Türkei marschiert ohne Absprache ein. Unsere Sicherheit hängt von der Glaubwürdigkeit der Abschreckung ab.

Es darf deshalb nichts passieren, was das atlantische Bündnis schwächt oder den USA den Vorwand gibt zu sagen: Die wollen ja sowieso etwas anderes als unseren Nuklearschirm. Zweitens müsste man in vertraulichen Gesprächen erstmal klären, wozu Frankreich bereit wäre.

Macron wird erstmals bei der Sicherheitskonferenz reden - muss die Bundesregierung nicht viel mehr auch im Sicherheitsbereich mit Frankreich kooperieren?
Wenn Macron in seiner jüngsten Rede vor der École militaire die Europäer auffordert, nicht länger nur dem Zerfall der europäischen Sicherheitsarchitektur zuzuschauen, sondern ihre Sicherheitsinteressen klar zu formulieren, ist das ein wichtiger Aufruf. Diese Dialogaufforderung über eine europäische Abschreckung und die Erneuerung des internationalen Nichtverbreitungsregimes sollte die deutsche Außenpolitik ernst nehmen. In Deutschland kursierende Vorstellungen, dass man möglicherweise den französischen Nuklearschirm europäisieren könnte, halte ich für abwegig. Kein französischer Präsident wird sein Entscheidungsmonopol in der Frage abgeben.

Sie kritisieren immer wieder die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU. Wie kann das eigentlich sein, dass wir zum Beispiel vor Russland Angst haben sollen? Einem Land, das drei Prozent der Weltwirtschaft hat, während die EU ökonomisch sieben Mal so stark ist?
Die russische Außen- und Verteidigungspolitik ist hocheffektiv, weil sie von einer einzigen Person gesteuert wird und den ganzen diplomatischen und politisch-ökonomischen Instrumentenkasten einschließlich militärischer Mittel umfasst, siehe zum Beispiel Syrien. Die Europäische Union gibt für Verteidigung ein Mehrfaches dessen aus, was Russland ausgibt. Wir tun das aber außerordentlich ineffektiv. Die EU-Staaten haben zusammen 178 schwere Waffensysteme, die USA beispielsweise nur 30. Kleinere EU-Staaten kaufen sich Eurofighter oder F-35 in kleinsten Stückzahlen. Das erhöht die Anschaffungs- und die Wartungskosten gewaltig.

Wie wäre es, wenn wir qua EU gemeinsam einkaufen würden, 200 oder 300 Flugzeuge auf einmal? Zweitens sprechen wir in der Außenpolitik nur selten wirklich mit einer Stimme. Von einer ernstzunehmenden echten gemeinsamen Sicherheitspolitik sind wir noch weit entfernt. Aber es gibt erfreuliche Ansätze: Ursula von der Leyen spricht ja von einer geostrategischen Kommission.

Was würde konkret und schnell helfen?
Wir müssen erst einmal lernen, konsequent mit einer Stimme zu sprechen, das erfordert den Abschied vom Einstimmigkeitsprinzip. Heute kann jedes Land alles blockieren. Die Bundeskanzlerin hat sich für Mehrheitsentscheidungen ausgesprochen, ebenso Manfred Weber, Sigmar Gabriel und Heiko Maas. Warum legt die große Koalition denn dann keinen Plan dafür in Brüssel vor? Wenn wir nicht schneller, klarer und mutiger bei außenpolitischen Entscheidungen werden, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir bei Konflikten in unserer Nachbarschaft machtlos aussehen, siehe Syrien, siehe Libyen.

Stattdessen fantasieren deutsche Politiker gerne über eine europäische Armee. Die macht aber erst dann Sinn, wenn wir wirklich mit einer Stimme sprechen. Solange wir die Kakophonie von 27 möglichen Vetos bei jeder außenpolitischen Entscheidung haben, würde ich als Schwabe sagen: Da ist Hopfen und Malz verloren.

Zum Schluss ein Blick nach Amerika: Wie wird die Welt leichter zu managen sein, wenn Trump nicht wiedergewählt wird?

Wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, dass es einen Weg zurück zur Zeit vor Trump gibt. Wenn wir im November einen demokratischen Präsidenten bekommen, erwarte ich auch keine Rückkehr zu transatlantischer Glückseligkeit. Wir erleben nicht erst seit Trump Ansätze zu einer etwas isolationistischeren Außenpolitik. Das muss ein Weckruf für uns sein: Die Käseglocke des frei Haus gelieferten amerikanischen Schutzes, unter der sich Europa ein halbes Jahrhundert mit sich selbst beschäftigen konnte, wird es so nicht mehr geben.

Deshalb kritisiere ich diejenigen in Deutschland, die traumtänzerisch eine Welt ohne Konflikte und ein Deutschland ohne Militär fordern und dabei die Ängste unserer Nachbarn - Polen und Balten - komplett ausblenden. Ich bin sehr für Abrüstung, aber bitte nicht einseitig. Helmut Schmidt würde sich im Grabe rumdrehen. Ohne ein Mindestmaß an politisch- militärischer Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU und auch der Bundesrepublik Deutschland, wird es nichts werden mit der Wahrung unserer Interessen, egal ob beim Thema Flüchtlingsströme, Russland oder bei Friedensbemühungen im Nahen Osten.

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