Exekution gefesselter Zivilisten als Wendepunkt: Horrende Kriegsverbrechen – und nun?
Trotz Massaker: Deutschland kann nicht sofort aus russischem Gas aussteigen. Wirtschaftliche Stärke ist Vorbedingung nachhaltiger Ukraine-Hilfe. Ein Kommentar.
Das Massaker an wehrlosen Zivilisten in Butscha ist ein Wendepunkt. Immer lauter werden die Stimmen, die einen Importstopp für russisches Gas ungeachtet der Folgen für Wirtschaft und Arbeitsplätze fordern.
Und die Lieferung von Panzern und anderen Offensivwaffen, damit die Ukraine besetzte Gebiete zurückerobern kann. Auch das ist eine Umkehr. In den ersten Kriegswochen galt: Waffen zur Verteidigung ja, nicht aber für den Gegenangriff.
Warum bewirken die Bilder aus Butscha, was der Vernichtungskrieg gegen die Stadt Mariupol mit weit mehr Toten nicht vermochte? Wohin führt diese Wende und wie weit trägt sie?
Es gibt Momente der Wahrheit: Ein Bild bewegt die Herzen stärker als viele Informationen zuvor. Denn es drückt die moralische Essenz aus.
Wucht der Bilder: Alan Kurdi, Flug MH17, Butscha
Diese emotionale Wucht hatte das Foto von Alan Kurdi, dem toten Flüchtlingskind am Strand 2015, obwohl man wusste, dass Tausende vor ihm im Mittelmeer ertrunken waren.
Auch die Fotos nach dem Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine 2014 wühlten auf: Russische Separatisten trampelten mit Waffe in der Hand und Zigarette im Mund über Trümmer, Leichenteile und Kinderspielzeug. Dies zeigte ihre Menschenverachtung und widerlegte die Behauptung, sie kämpften um Grundrechte diskriminierter Russen.
Und nun beweist Butscha, wo gefesselte Zivilisten exekutiert wurden: Russland begeht horrende Kriegsverbrechen. Es sind nicht Einzelfälle. Das Morden hat System.
Putin führt einen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilgesellschaft. Wer spürt da nicht Empörung und das Verlangen nach viel drastischeren Maßnahmen?
Sanktionen, die die eigene Wirtschaft schwächen, sind kontraproduktiv
Doch so berechtigt der Zorn und der Ruf nach mehr Härte sind: Regierungen dürfen sich davon nicht fortreißen lassen. Sie müssen mit kühlem Kopf abwägen, welche der geforderten Reaktionen nutzen oder schaden.
Es wäre kontraproduktiv, Sanktionen zu forcieren, die die eigene Wirtschaft stark schwächen. Oder große Teil der Gesellschaft wegen der Jobverluste und Preissteigerungen überfordern und mit der Zeit eine breite Ablehnung der Solidarität mit der Ukraine auslösen. Ebenso darf die Waffenhilfe die eigene Verteidigungsfähigkeit nicht schmälern.
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Deutschland und seine Verbündeten müssen ihre ökonomische, politische und militärische Stärke erhalten, um der Ukraine effektiv helfen zu können. Nicht nur jetzt, sondern nachhaltig.
Der Krieg wird nicht schnell enden. Er kann Monate, vielleicht Jahre dauern. Ein Zaubermittel, das Wladimir Putin zum raschen Abzug zwingt, gibt es nicht.
Maßnahmen, die nicht sofort wirken, sind nicht wertlos
Doch auch umgekehrt ist der Einwand gegen härtere Sanktionen – das wird den Krieg nicht morgen beenden – wenig wert. Was nicht sofort wirkt, kann mit der Zeit helfen.
Das Ziel muss sein, Putin mit einer Kombination aus Strategien, die kurz-, mittel- und langfristig wirken, zu besiegen und die Friedensordnung zu retten. In den sieben Wochen seit dem Angriff hat sich seine Position drastisch verschlechtert.
Die Gegenwehr der Ukrainer hat Erfolg – wer hielt das anfangs für denkbar? Die Belagerung Kiews ist beendet. Wird es Präsident Selenskyj und seinen Truppen gelingen, die Aggressoren hinter die Ausgangslinien vom 24. Februar zurückzutreiben?
Heute klingt das so realitätsfern wie erfolgreicher Widerstand zu Kriegsbeginn. Doch mit entschiedener westlicher Hilfe ist es möglich.
Waffenlieferungen fallen leichter als ein Boykott russischer Energie
Militärisch braucht die Ukraine Panzer, Artillerie, Luftabwehr und Anti- Schiff-Raketen, um Putins Luftwaffe und die Kriegsmarine vor der Küste am Eingreifen zu hindern. Die Bundeswehr hat wenig abzugeben, sie ist selbst blank. Andere Verbündete haben mehr Möglichkeiten.
Die ökonomischen Optionen sind komplizierter. Die Einfuhr russischer Kohle kann die EU zügig verbieten. Ein Stopp der Erdölimporte wird dauern und die Preise steigen lassen.
Ein Gas-Embargo schadet heute mehr, als es nutzt. Der Ausstieg kommt mit der Zeit.
Die Bilder aus Butscha erzwingen die Abwägung. Sie erhöhen den Druck, alles zu tun, was möglich ist, um den Aggressor zu stoppen – aber, ohne die eigene Kraft zu mindern. Stärke bleibt die Vorbedingung nachhaltiger Hilfe für die Ukraine.