Entwicklungsminister Müller: „Menschenrechtsstandards haben in deutschen Firmen nicht den richtigen Stellenwert“
Entwicklungsminister Gerd Müller spricht im Interview über Kinderarbeit, Ausbeutung und Umweltrisiken in armen Ländern und die Verantwortung deutscher Firmen.
Gerd Müller startete seine Karriere bei der Jungen Union, engagierte sich in der Kommunalpolitik und arbeitete im bayerischen Wirtschaftsministerium. Sein katholischer Glaube ist ihm wichtig.
Von 1989 bis 1994 gehörte Müller dem Europaparlament an. Seither sitzt er im Bundestag. Mit Sozialdemokraten und Grünen pflegte er regen Austausch.
Der Sohn eines Landwirts wurde 2005 Staatssekretär im Ernährungsministerium. Seit Ende 2013 leitet er das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in der zweiten Legislaturperiode.
Herr Müller, die Deutschen geben jedes Jahr im Weihnachtsgeschäft Milliarden Euro aus. Ist das eine gute Nachricht?
Das ist jedenfalls ein Zeichen, dass wir ein Wohlstandsland sind. Gegen Konsum ist nichts zu sagen. Ich würde mir aber wünschen, dass mehr Deutsche nachhaltig einkaufen.
Achten Sie beim Weihnachtseinkauf auf faire Produkte?
Ja, aber ich habe für Weihnachten bisher nur ein Buch gekauft. Dabei wird es voraussichtlich auch bleiben.
Sind die Deutschen denn gut informiert darüber, welche Produkte fair gehandelt sind und welche nicht?
Ich habe den Eindruck, dass viele nicht ausreichend informiert sind. Deshalb sollten wir Informationsportale aufbauen, die eine schnelle und klare Orientierung ermöglichen. Für Textilien sind wir ja schon vorangegangen und haben den „Grünen Knopf“ als staatliches Siegel für fair produzierte Kleidung eingeführt. Aber bei vielen anderen Warengruppen kann man sich nicht so einfach informieren. Das sollten wir ändern.
Sehen Sie Fortschritte in den vergangenen Jahren?
Die Menschen machen sich sicher mehr Gedanken, wo die Dinge herkommen, die sie kaufen. Ich nehme auch eine große Offenheit wahr, wenn es um Fairness für die Menschen in ärmeren Ländern geht, die Produkte für uns herstellen. Aber wir brauchen mehr Verlässlichkeit – auch bei den Produktinformationen. Neben Textilien gibt es im Lebensmittelbereich vielversprechende Ansätze. Bei Möbeln, Teppichen oder Elektronikartikeln ist dagegen nicht auf den ersten Blick zu erkennen, was nachhaltig produziert wurde und was nicht.
Warum verpflichten sich so wenig deutsche Firmen freiwillig dazu, bei allen ihren Lieferanten im Ausland die Einhaltung hoher Umwelt- und Sozialstandards zu garantieren?
Das ist ja mein Thema: Nachhaltigkeit muss Standard werden. Firmen müssen alles tun, dass ihre Produkte ohne Kinderarbeit hergestellt werden. Grundlegende Menschenrechtsstandards müssen in der Lieferkette sichergestellt sein. Dazu gehören auch existenzsichernde Löhne und Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen.
Haben Sie selbst schon schlimme Unternehmen besucht?
Ich war kürzlich in Äthiopien in einer Gerberei, die Leder für Schuhe produziert. Auch für Europa. Die Bedingungen für die vielen Frauen, die dort in einer Halle ohne Belüftung und Schutzkleidung mit Chemikalien und gefährlichen Geräten arbeiten, sind fürchterlich. Das Material für ein Paar hochwertige Lederschuhe, die in Deutschland für 100 Euro verkauft werden, kostet im Einkauf nur vier Dollar. Deswegen sind die Bedingungen für Mensch und Natur schwierig bis katastrophal. Ich war auch auf Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste, auf Bananenplantagen in Mexiko, in Textilfirmen in Bangladesch und in Kupferminen in Sambia. Ich weiß, wovon ich rede.
Laut einer Umfrage unter deutschen Firmen im Auftrag der Bundesregierung erfüllen nur ein Fünftel dieser Unternehmen Sozial- und Umweltstandards in ihren Lieferketten. Warum sind das so wenige?
Das Hauptargument der Gegner lautet: Es gehe nicht, zum Beispiel von der Näherei bis zum Verkauf in Deutschland faire und ökologische Bedingungen zu überwachen. Aber das stimmt einfach nicht. Mit dem staatlichen Textilsiegel „Grüner Knopf“ beweisen wir ja, dass es geht. Sowohl Großunternehmen als auch Mittelständler können das umsetzen und machen mit. Und wenn es bei Textilien geht, geht es bei allen anderen Lieferketten auch.
Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer sagt aber: Das Gesetz sei nicht praktikabel. Was antworten Sie ihm?
Dass er die Eckpunkte abwarten sollte. Aber das Prinzip globalen Wirtschaftens kann nicht die Externalisierung, also die Auslagerung von ökologischen und sozialen Kosten sein. Wir können nicht zu Billiglöhnen unsere Waren produzieren lassen und dabei die Umwelt in den Herkunftsländern schädigen. Was in Deutschland und in Europa verkauft wird, muss Mindeststandards auch in den Produktionsstandorten in Entwicklungsländern genügen.
Vor einem Jahr hatten Sie angekündigt, notfalls mit empfindlichen Strafen dafür zu sorgen, dass die Firmen die Standards einhalten. Sind Sie in der Bundesregierung ausgebremst worden?
Nein, jetzt ist die erste Stufe des Prozesses abgeschlossen. Wir haben 3200 Firmen befragt, wie sie Menschenrechtsstandards in ihrer Lieferkette einhalten. 465 haben den Fragebogen überhaupt zurückgeschickt – nach zweimaligen Nachfassen. Sage und schreibe 20 Prozent von ihnen hat der externe Durchführer als „Erfüller“ eingestuft. Dieses Ergebnis ist mehr als ernüchternd. Es zeigt: Menschenrechtsstandards haben in deutschen Unternehmen nicht den Stellenwert, den sie haben müssten. Aus meiner Sicht brauchen wir keine zweite Befragung mehr. Jetzt müssen wir handeln und ein Lieferkettengesetz auf den Weg bringen. Da bin ich mit Arbeitsminister Hubertus Heil völlig einig.
Bleiben Sie dabei: Bußgelder bis zu fünf Millionen Euro und Ausschluss von öffentlichen Aufträgen in Deutschland für Firmen, die die Standards reißen?
Arbeitsminister Hubertus Heil und ich werden jetzt gemeinsam Eckpunkte vorlegen – und zwar mit Augenmaß. Die meisten Unternehmen wollen Rechtssicherheit und einen fairen Wettbewerb. Deswegen brauchen Wirtschaftsvertreter keine Horrorszenarien an die Wand zu malen. Wir werden im Frühjahr auch mit der Wirtschaft diskutieren, wie wir die Standards definieren. Eines muss aber klar sein: Bei offensichtlichen Verstößen gegen die unternehmerische Sorgfaltspflicht muss es zu Sanktionen kommen.
Wieso mit der Wirtschaft, wenn die sich mit Händen und Füßen gegen das Gesetz wehrt? Müssen Sie dann nicht irgendwann sagen: gegen die Wirtschaft?
Wieso? Viele Unternehmen gehen ja schon voran und engagieren sich. Über 40 renommierte Unternehmen haben sich kürzlich für ein Lieferkettengesetz ausgesprochen. Jetzt kommt es zum Schwur. Es kann nicht sein, dass Firmen einen Wettbewerbsnachteil haben, weil sie sich um die Einhaltung der Menschenrechte kümmern. Der Wohlstand in Deutschland und Europa darf nicht länger auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in Entwicklungsländern beruhen. Ich habe in die Augen der Kinder geschaut, die unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen. Ihre Botschaft war: Sorgt dafür, dass sich unser Leben verbessert. Daran arbeite ich.
Beim Textilbündnis haben Sie bislang auf freiwillige Teilnahme gesetzt ...
Auch beim Textilbündnis zeigt sich: Freiwilligkeit hat Grenzen. Märkte brauchen Regeln, globale Märkte brauchen globale Standards. Die dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern müssen umgesetzt werden.
Mit welchem Ziel?
Wir können nicht in unseren Lieferketten Zustände akzeptieren, wie wir sie in Europa in der Frühphase des Kapitalismus im 19. Jahrhundert hatten. Wir müssen den Menschen in den Produktionsländern eine Perspektive geben. Die Näherinnen schuften 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche für einen Stundenlohn von 25 Cent. Unmöglich, davon zu leben! Wir müssen in Bezug auf unseren Wohlstand neu teilen lernen.
Wie soll das gehen?
Die meisten Konsumenten in Deutschland werden es am Endpreis kaum merken, wenn der Hersteller von Schuhen für das Leder nicht vier, sondern sechs Dollar im Einkauf zahlt. Damit schaffen wir aber menschenwürdige Arbeitsplätze und sichern den Menschen eine Zukunft in ihrer Heimat. Das ist unsere Verantwortung und unser Interesse. Auf Dauer wird es uns nur gut gehen, wenn es anderen auch gut geht. In den reichen Industrieländern leben nur zehn Prozent der Weltbevölkerung, aber sie verfügen über 90 Prozent des Weltvermögens. Wir haben selbst wenig Rohstoffe, verbrauchen aber 80 Prozent der weltweiten Ressourcen. Nur wenn wir hier einen Ausgleich hinbekommen, können wir verhindern, dass es zu dramatischen Konflikten und Flüchtlingsbewegungen kommt.
Und das kann das Lieferkettengesetz garantieren?
Es ist eines von vielen Instrumenten. Ich denke auch an die Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Schauen Sie sich den Spekulationsirrsinn der Weltbörsen an. Jeden Tag werden im Hochgeschwindigkeits-Computerhandel zwischen Schanghai und San Francisco in Zehntelsekunden Milliarden hin- und hergeschoben. Nur um Profit zu machen. Die Realwirtschaft ist davon längst abgekoppelt. Milliardäre werden zu Multimilliardären. Deshalb muss eine Finanztransaktionssteuer global ansetzen und reine Spekulationsgewinne besteuern. Diese Mittel brauchen wir für globale Herausforderungen wie den Klimaschutz.
Die Finanztransaktionssteuer, die Finanzminister Olaf Scholz gerade vorgelegt hat, betrifft nur Aktienumsätze, nicht die Spekulationsprodukte.
Olaf Scholz verfolgt die gleichen Ziele wie ich, aber er braucht dafür zehn EU-Partner. Der Finanzlobby in den europäischen Ländern ist es leider gelungen, gewaltigen Gegendruck aufzubauen. Ich finde es wichtig, dass wir jetzt den Einstieg in eine Finanztransaktionssteuer schaffen. Wir müssen sie dann aber später auf hochspekulative Produkte wie Derivate erweitern.
Noch scheint es dahin ein langer Weg. Viele Staaten stärken ihre Verteidigungshaushalte, nicht ihre Entwicklungsetats ...
Ja, die Tendenz ist erschreckend: Es wird weltweit immer mehr in Rüstung investiert als in Entwicklung. Das wird in eine Katastrophe führen.
Da haben Sie einen neuen Verbündeten. Der gerade gewählte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagt, er wolle nicht mehr Geld in Rüstung, sondern mehr in Entwicklung investieren ...
Das kann ich nur dick unterstreichen. Frieden schaffen mit weniger Waffen ist doch ein gutes Ziel. In Afrika gibt es keine Rüstungsfabrik, und trotzdem sind die Länder vollgepumpt mit Waffen – das ist unglaublich. 1600 Milliarden Dollar gibt die Welt jedes Jahr für Rüstung aus, nur 160 Milliarden Dollar für Entwicklungszusammenarbeit – das ist ein eklatantes Missverhältnis.
In der Bundesregierung gibt es aber auch Stimmen, die mehr militärisches Engagement von Deutschland fordern.
Wir brauchen beides. Sicherheit ist wichtig. Da unterstütze ich die Verteidigungsministerin. Aber genauso brauchen wir Entwicklung und Humanität. Wir müssen zu allererst Krisen verhindern, Kriege vermeiden – und dazu gehört es, Menschen in Hunger, Not und Elend nicht allein zu lassen. Wenn alle G-7-Staaten ihrem Versprechen nachkämen und 25 Milliarden Euro dafür aufbringen, könnten wir in zehn Jahren den Hunger in der Welt besiegen – und damit auch die Hauptursachen für Kriege, Flucht und Vertreibung. Eine großartige Perspektive: eine Welt ohne Hunger und Not.
Das sind hohe Ziele, die Sie ansprechen.
Das sagen Sie. Ich nenne es machbare Ziele. In zehn Jahren ist es möglich, mit unserer Technologie und unserem Wissen, ein Afrika ohne Hunger zu schaffen. In 20 Jahren können wir mithilfe von Sonne, Wasser und Wind jeden Haushalt in Afrika mit Elektrizität versorgen und dabei gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen. Notwendig dazu ist der politische Wille und eine Innovations- und Investitionsoffensive Europas und der G 20.
Dafür bräuchte es aber wirtschaftliche Investitionen, wie Sie sie mit Ihrem Marshallplan mit Afrika in den Süden holen wollen. Doch viele Unternehmer zögern dabei. Haben Sie sich verschätzt?
Wir handeln. Um Mittelständlern den Markteintritt in Afrika zu erleichtern, haben wir einen Entwicklungsinvestitionsfonds mit bis zu einer Milliarde Euro eingerichtet. Nach wenigen Wochen liegen uns schon 240 Anträge vor. Ich habe selbst 42 afrikanische Länder bereist und sehe nicht nur Probleme, sondern auch riesige Chancen. Die Auftragsbücher der deutschen Industrie sind voll mit Aufträgen aus Asien. Doch jetzt sind wir an einem Wendepunkt. Immer mehr erkennen, dass die Wachstumspotenziale der Zukunft in Afrika liegen. Der Kontinent wird seine Bevölkerung bis 2050 verdoppeln. In den nächsten zehn Jahren wird an Infrastruktur so viel gebaut wie in Europa die letzten 100 Jahre. Da müssen wir doch dabei sein. Wir haben die Technik und die Firmen. Wir sollten Afrika nicht den Chinesen überlassen.
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