Unklarer Ausgang, Rechtsstreit oder gar Bürgerkrieg?: Mehr Zuversicht, bitte – Biden gewinnt die Wahl
Die Schreckensszenarien für den November sind übertrieben. Nach aller Wahrscheinlichkeit endet der Wahltag mit "You are fired, Mr. Trump!" Ein Kommentar.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Mitunter jedoch wirkt Vorsicht wie Kleinmut. Schreckensszenarien dominieren das Bild, was nach der US-Wahl alles passieren könnte: Donald Trump zweifelt einen Sieg Joe Bidens nach der Auszählung an; am Ende entscheidet der Supreme Court, den Trump rasch noch mit einer konservativen Richterin besetzt. Er ruft rechte Milizen auf, seinen Machtanspruch mit Waffengewalt zu verteidigen. Womöglich bricht ein Bürgerkrieg aus.
Unmöglich sind solche Entwicklungen nicht. Aber sie finden sich am extremen Ende einer Bandbreite von Möglichkeiten. Man muss gar nicht ein umgekehrtes Extrem anführen, das sich auf allzu optimistische Annahmen stützt, um den Befürchtungen etwas entgegenzusetzen. Es genügt, auf die ziemlich stabilen Umfragen zu vertrauen.
Die lassen ein so klares Wählervotum erwarten, dass Trump gar keine Ansatzpunkte findet, um seine Niederlage anzuzweifeln: Biden gewinnt das Weiße Haus mit hohem Vorsprung an Wahlmännerstimmen. Die Demokraten verteidigen ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus. Und sie erobern dazu die Mehrheit im Senat. Wenn es so kommt, würden sich die meisten Sorgen, wie es in 22 Tagen machtpolitisch weitergeht, erledigen.
Laut Umfragen wird Biden hoch gewinnen. Kann man ihnen trauen?
Auf Umfragen vertrauen – obwohl sie 2016 falsche Erwartungen geweckt hatten, dass Hillary Clinton Präsidentin würde? Ja, das scheint viel verlangt. Aber auch die Demoskopen haben dazugelernt.
Im Schnitt der landesweiten Erhebungen liegt Biden bei Real Clear Politics mit 9,8 Prozentpunkten vorn, bei Nate Silvers Blog 538 mit 10,3 Prozentpunkten. Und im Schnitt der entscheidenden „Battleground States“ mit 4,5 Prozentpunkten. Das sind Margen jenseits der statistischen Fehlerquote.
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Rechnet man die aktuellen Umfragen in Wahlmänner um – hier allerdings inklusive der Wackelstaaten mit knappen Umfragen -, käme Biden auf 358, Trump aus 180. Die Wahrscheinlichkeit eines Biden-Siegs stehen bei Nate Silver 86 zu 14, die „Betting Odds“ bei Real Clear Politics 65 zu 35.
Auch im Kongress ist ein Sieg der Demokraten wahrscheinlich
Im Repräsentantenhaus haben die Demokraten eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit, ihre Mehrheit zu verteidigen. In der zweiten Kammer, dem Senat, ist das Rennen knapper; in Nate Silvers Projektion von 100 Varianten gewinnen in 68 Fällen die Demokraten, in 32 die Republikaner. Selbst wenn die Demokraten den Senat nicht erobern: Mit dem Weißen Haus und dem Repräsentantenhaus hätten sie eine starke Machtbasis.
Aber: Kann Trump nicht doch noch die Wende schaffen? Ja, das ist möglich. Und diese Unsicherheit wird – ausgerechnet – durch den Vergleich der Umfragen von 2020 und 2016 genährt. Trump lag in den Erhebungen gegen Hillary Clinton vor vier Jahren stärker zurück als jetzt gegen Biden – national wie in den „Battlegrounds“; und hat am Ende gewonnen. Dann kann ihm das nun erst recht gelingen, nicht wahr? Es kann allerdings auch sein, dass die Demoskopen ihr Rohmaterial wegen der Erfahrungen 2016 jetzt realitätsnäher auswerten und sich daraus das Bild ergibt, dass Biden nicht ganz so deutlich führt wie Clinton 2016.
Trump braucht einen "Gamechanger". Der gelingt ihm aber nicht
Für die Wahrscheinlichkeit, dass Biden gewinnt, sprechen neben den Zahlen die Erfahrungen der vergangenen Wochen. Trump braucht einen „Gamechanger“ – ein Ereignis, dass die Dynamik zu seinen Gunsten wendet. Es gab einige Anlässe, die dazu hätten werden können – die Radikalisierung der Proteste gegen Polizeigewalt, die Parteitage, die Nominierung einer neuen Verfassungsrichterin, das erste TV-Duell, Trumps Corona-Erkrankung. Aber es gelang Trump nicht, von diesen Gelegenheiten signifikant zu profitieren.
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In den August, den Monat der Parteitage, war Biden mit neun Prozentpunkten Vorsprung gegangen. Dann radikalisierten sich die Proteste gegen Polizeigewalt. In mehreren Städte wurden Geschäfte geplündert und in Brand gesteckt. Es gab Schießereien zwischen Trump-Anhängern und Gegnern mit Toten. Trump schien das Thema gefunden zu haben, mit dem er siegen kann: Law and Order. Bis Anfang September war Biden in den Umfragen tatsächlich deutlich eingebrochen. Doch zu einer Wende reichte es nicht. Mitte September war Biden wieder im Anstieg.
Supreme Court, TV-Duell, Corona: Der Präsident kann nicht punkten
Bald darauf eröffnete der Tod der Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg Trump die Möglichkeit, eine dritte konservative Person für den Supreme Court zu nominieren und so seine Wähler zu mobilisieren. Biden entzog sich Trumps Versuch, dies zur Schicksalsfrage bei der Wahl zu machen. In den Umfragen bewegte sich wenig.
Beim ersten TV-Duell Ende September versuchte Trump es erneut mit der Brechstange. Wieder war die Frage: Wen sehen die Wechselwähler als Sieger? Biden, weil er die besseren Argumente hatte und höflicher auftrat? Oder Trump, weil er mehr Energie ausstrahlte? Blitzumfragen sahen Biden im Vorteil; sie sind allerdings nicht repräsentativ.
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Noch ehe methodisch bessere Umfragen mit drei, vier Tagen Abstand eine eindeutige Antwort geben konnten, welche Wirkung das TV-Duell spielte, erkrankte Trump an Corona. Die Umfragen maßen die Summe all dieser Eindrücke. Zum Schaden Trumps. Einen Mitleidseffekt sahen die Demoskopen nicht. Dass er sich infiziert hatte, löste wohl eher heimliche Schadenfreude aus, weil er die Gefahr seit Monaten heruntergespielt hatte. Die Versuche, seine angeblich jähe Genesung als Wink des Himmels zu interpretieren oder sich zum besonders widerstandsfähigen „Surviver“ einer für Senioren oft tödlichen Krankheit zu stilisieren, brachten ihm nichts ein. Er fällt weiter zurück, Bidens Vorsprung steigt. Die traurige Realität ist den Bürgern wichtiger als die Show.
Die meisten Bürger haben sich entschieden, viele sogar schon gewählt
Warum also nicht mit mehr Zuversicht auf den Wahltag schauen? Eine „October Surprise“ ist gewiss nicht ausgeschlossen, ob von Trump inszeniert oder auswärtigen Mächten wie Russland. Doch nach der Erfahrung der letzten Monate zu urteilen, würde sie wenig bewegen. Die meisten Wähler haben ihre Entscheidung getroffen und lassen sich nicht mehr umstimmen. Millionen haben bereits gewählt, per „Early Voting“ oder Briefwahl.
Der entscheidende Unterschied zu 2016 ist: Damals kam Trump von außen in die Politik. Er konnte alles, was schlecht läuft in den USA, auf die damals regierenden Demokraten schieben. 2020 ist er der Präsident. Das meiste, was schlecht läuft, richtet sich gegen ihn und seine Bilanz. Auch deshalb darf man ein bisschen Vertrauen in die Umfragen haben. Gewiss doch, nichts ist sicher. Aber das wahrscheinliche Urteil der Wähler nach Auszählung der Stimmen lautet: You are fired, Mr. Trump!