Trumps Herausforderer schweigt in Sachen Supreme Court: Biden bleibt bei der Devise „Do no harm!“
Warum der US-Demokrat beim aktuellen Topthema des Wahlkampfs, der Nachfolge für Ruth Bader Ginsburg am Obersten Gericht, gezielt ausweicht. Eine Analyse.
Einer schweigt. Joe Biden vermeidet in auffälliger Weise das Thema, das durch den Tod der progressiven Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg ins Zentrum des Wahlkampfs gerückt ist. Wen benennt Präsident Trump als Nachfolgerin, und entsteht eine dauerhafte konservative Mehrheit am Obersten Gericht?
Das hätte weit reichende Folgen für polarisierende Fragen wie die Gültigkeit von „Obamacare“, der Reform der Krankenversicherung, für die Kompetenzverteilung zwischen Bundesregierung und Einzelstaaten, den Mindestlohn, die Umwelt- und Klimapolitik. Warum greift der Präsidentschaftskandidat der Demokraten den Streit nicht auf – und wie lange kann er das durchhalten?
Am Freitag war Bader Ginsburg gestorben. Rasch kam von Biden ein lobender Nachruf. Und dann lange, lange nichts.
Nach Ginsburgs Tod dreht Trump auf, Biden taucht ab
Am Samstag sagte er alle Wahlkampfauftritte und öffentlichen Erklärungen aus Pietät gegenüber der Verstorbenen ab. Parallel entfachte Trump ein mediales Feuerwerk: Die Nachbesetzung dulde keinen Aufschub. Das Gleiche taten linke Demokraten und Bürgerbewegungen, mit umgekehrter Botschaft: Keinesfalls dürfe im Schnellverfahren eine neue Verfassungsrichterin ins Amt kommen. Das müsse bis nach der Wahl warten.
Am Sonntag geriet Biden unter so hohen Druck, dass er das Thema bei einem Wahlkampfauftritt kurz anspielte. Er beschränkte sich aber auf wenige Aspekte. Es sei nicht fair, dass die Republikaner Barack Obama 2016 die Nachbesetzung des Richterpostens, der durch Antonin Scalias Tod vakant war, mit ihrer Senatsmehrheit verweigert hatten – mit der Begründung, so eine wichtige Entscheidung müsse bis nach der Wahl warten. Und dass sie nun umgekehrt argumentierten.
Im Übrigen glaube er nicht, dass eine rasche Nachbesetzung Trump nutze, spielte er die Bedeutung herunter; das Thema mobilisiere nicht nur dessen Anhänger, sondern auch Demokraten. Er wolle jedoch keinen Schlagabtausch mit Trump über die Nachfolge und ihren Zeitpunkt. Denn der sei Argumenten nicht zugänglich und mache, was er wolle. Auf Forderungen, Biden solle sagen, wen er für den Supreme Court nominieren würde, ging er nicht ein. Bei dieser zurückhaltenden Linie ist er geblieben.
Wie lange hält er das durch? Bis zur TV-Debatte am Dienstag
Kann das gut gehen: Der Herausforderer weigert sich, das aktuell herausragende Thema zu erörtern? Spätestens die erste TV-Debatte am Dienstag wird dieser Taktik ein Ende setzen. Aber warum setzt Biden überhaupt auf diesen Kurs?
Biden kalkuliert rein utilitaristisch: Wem nützt es, Trump oder ihm? Und kommt zum Schluss, dass ein Schwenk von den bisher wahlkampfbestimmenden Fragen – Corona, die Wirtschaftskrise, Proteste gegen Polizeigewalt – zum Kampf um die Ginsburg-Nachfolge in Trumps Interesse liege.
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Die bisherige Dynamik hat Biden zum Vorteil gereicht. Er führt im Schnitt der landesweiten Umfragen mit 6,6 Prozentpunkten und in wahlentscheidenden „Battleground States“ mit 3,8 Prozentpunkten. „Do no harm!“ – bloß nichts ändern, wenn es gut läuft. Mit dieser risikoscheuen Devise war er bisher erfolgreich, auch wenn Kritiker spotteten, er verstecke sich im Keller seines Hauses in Delaware, statt offensiv Wahlkampf zu führen.
Anfangs stand die Senatsmehrheit in Frage. Das ist vorbei
Biden weiß zwar, er mit der Angst vor einem strategischen Wechsel am Verfassungsgericht Wähler der Demokraten mobilisieren könnte. Aber unter dem Strich würde diese Polarisierung Trump mehr nützen als ihm, weil sie Trump aus der Defensive heraus hilft. Warum soll er da mitmachen?
In der Nachfolgefrage kann Trump in die Rolle des erfolgreichen Machers schlüpfen. Es zeichnet sich ab, dass die republikanische Senatsmehrheit steht. Das Risiko, dass konservative Senatsmitglieder, die um ihre Wiederwahl fürchten, unter öffentlichem Druck einknicken, ist in den vergangenen Tagen gesunken.
Trumps Erfolg ist absehbar. Warum ihn durch Widerstand vergrößern?
Zunächst hatten zwei Republikanerinnen, Susan Collins aus Maine und Lisa Murkowski aus Alaska, erklärt, sie wären für eine Verschiebung der Nachbesetzung bis nach der Wahl. Sofort kamen Spekulationen auf, auch Cory Gardner, der in Colorado hinter seinem demokratischen Herausforderer John Hickenlooper zurückliegt, werde umfallen. Als weitere Wackelkandidaten galten Mitt Romney aus Utah und Chuck Grassley aus Iowa.
Maximal drei Abweichler kann Trump sich erlauben. Doch zu Wochenbeginn erklärten erst Gardner und Grassley, dann auch Romney, sie stünden in dieser Frage hinter Trump. Der Amtsinhaber kann also mit einem Triumph vor der Wahl rechnen. Biden will den absehbaren Sieg nicht noch dadurch aufwerten, dass er sich widersetzt. Dann stünde er als Verlierer da. Berater aus seinem Umkreis bestätigen in US-Medien dieses Kalkül.
Biden vertraut auf die eigenen Stärken
Mehr Nutzen sieht Biden darin, dem Streit so lange wie möglich auszuweichen und die Themen anzusprechen, bei denen er sich im Vorteil sieht. Er gleicht aus, statt zu polarisieren. Er schürt keine Ängste. Er hat einen verlässlichen Charakter. Er behandelt Menschen mit Respekt und Mitgefühl.
Und wenn er in der TV-Debatte nach dem Supreme Court gefragt wird, wird er sich an seine „Talking Points“ halten: die Frage der Fairness und den Hinweis, dass der Supreme Court schon bald über „Obamacare“ entscheidet – wohl wissend, dass die Mehrheit der Wähler die Ausweitung der Krankenversicherung inzwischen für eine gute Sache hält.