zum Hauptinhalt
Der Kampf um die politischen Mehrheiten am Obersten Gericht mobilisiert beide Lager.
© J. Scott Applewhite/AP/dpa

Religiöse Hardlinerin oder moderate Konservative?: Was Trumps Kandidatin für den Supreme Court über seine Wahlkampfstrategie verrät

Mobilisierung der Basis oder breite Wählergruppen – mit der Nominierung für das Verfassungsgericht zeigt der US-Präsident auch, worauf er im Wahlkampf setzt.

Harte Linie oder eine Geste der Kompromissbereitschaft an die politische Mitte der USA – wie wird Präsident Donald Trump sich positionieren? Er sagt, er werde nicht vor Ende dieser Woche seinen Vorschlag bekannt geben, wer die am Freitag verstorbene, liberale Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg ersetzen soll. Er wolle ihre Beerdigung abwarten.

Bei der Entscheidung hat er nicht nur die weltanschauliche Zusammensetzung des Supreme Courts im Blick. Er setzt auch ein Signal für die letzten 40 Tage des Wahlkampfs.

Die Vorentscheidung, dass er eine Frau für die Nachfolge benennen werde, obwohl auf seiner Liste der Supreme-Court- Kandidaten weit mehr Männer stehen, zeigt: Er möchte eine Debatte vermeiden, dass er das ohnehin männerlastige Geschlechterverhältnis am Obersten Gericht weiter zu Lasten des weiblichen Anteils verschiebt. Das könnte ihn Frauenstimmen kosten.

Der „Gender Gap“ – Männer stimmen mehrheitlich für, Frauen mehrheitlich gegen ihn – ist schon jetzt eine seiner Schwachstellen. Es soll also dabei bleiben, dass zumindest drei der neun Mitglieder des Supreme Court weiblich sind.

Zwei Favoritinnen, eine aus dem Norden, eine aus dem Süden

Aber nun geht es darum, was für eine Frau es werden soll. Präsident Trump sagt, er ziehe fünf Kandidatinnen in Betracht. Aber nur vier der fünf Namen zirkulieren in den Medien, und nur zwei werden als Favoritinnen gehandelt: die 48-jährige Amy Coney Barrett, bisher Bundesrichterin am siebten Berufungsgericht in Chicago, Illinois, und die 52-jährige Barbara Lagoa, Tochter kubanischer Einwanderer in Florida und derzeit Bundesrichterin am elften Berufungsgericht in Atlanta, Georgia.

Die anderen zwei, deren Namen bekannt sind, gelten nicht als sonderlich chancenreich: Kate Todd, Rechtsberaterin des Weißen Hauses, und Bundesrichterin Allison Jones Rushing.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die beiden Favoritinnen Barrett und Lagoa wurden rasch mit Etiketten versehen und politisch eingeordnet. Barrett sei die religiösere und konservativere von beiden und zudem kinderreich. Lagoa, die die erste Latina am Landesverfassungsgericht von Florida war, würde als Signal an die wichtige Wählergruppe der Hispanics verstanden.

Die Kontroverse: Amy Coney Barrett gilt als Trumps Favoritin.
Die Kontroverse: Amy Coney Barrett gilt als Trumps Favoritin.
© via REUTERS

Wen immer Trump nominiert, es wird auch als Hinweis auf seine Wahlstrategie verstanden werden. Amy Barrett gilt als „Frontrunner“. Bei einer Entscheidung für sie wird es heißen, Trump wolle vor allem die christlichen Konservativen und seine Basis mobilisieren, damit diese beiden Gruppen in umso höherer Zahl zur Wahl gehen.

Und er lege es offenbar auf eine heftige Kontroverse an. Barrett gilt als Gegnerin eines generellen Rechts auf Abtreibung. Damit wirkt sie wie die Antithese zu Ginsburg, die unter Bill Clinton an das Oberste Gericht kam, sowie zu den beiden anderen Frauen am Supreme Court, die Barack Obama ernannt hatte: Sonia Sotomayor, die erste Latina dort, und Elena Kagan.

Der Streit um das Abtreibungsrecht mobilisiert

Barrett hat fünf leibliche Kinder im Alter unter 20 Jahren, darunter einen Sohn mit Down-Syndrom, und zwei Adoptivkinder, die aus Haiti stammen. Sie erfuhr während der Schwangerschaft vom Down-Syndrom des Ungeborenen, entschied sich aber für das Baby. Ihr Mann Jesse ist ebenfalls Jurist, arbeitete lange als Staatsanwalt und nun als Anwalt.

Barrett versteht sich in ihrem Zugang zur Rechtsprechung als „Originalistin“. Man solle die Verfassung von 1787 nach ihrem Wortlaut auslegen und nicht Interpretationen hineinlesen, die die Verfassungsväter nach dem damaligen Zeitgeist nicht im Sinn hatten wie zum Beispiel ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Dies ist der zentrale Streitpunkt im Kampf um das Abtreibungsrecht. Im Urteil „Roe vs Wade“ von 1973 hatte der Supreme Court das generelle Abtreibungsverbot in Texas für verfassungswidrig erklärt und Frauen ein aus der Bundesverfassung abgeleitetes „Right to Privacy“, ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, zugesprochen.

Beide Lager versprechen, was sie nicht halten können

Seither verlangen konservative US-Bürger eine Korrektur dieses Urteils, und versprechen konservative Präsidenten, sie würden Verfassungsrichter ernennen, die es kippen. Umgekehrt warnen progressive Bürger und Politiker, man müsse die Demokraten wählen, weil sonst das Abtreibungsrecht in den USA abgeschafft werde.

Beide Behauptungen sind fern der Realität und dienen den politischen Lagern vor allem zur Mobilisierung ihrer jeweiligen Basis. Würde „Roe vs Wade“ aufgehoben, wäre Abtreibung keineswegs landesweit verboten. Das Recht, dies zu regeln, würde vom Bund an die Einzelstaaten zurückfallen. Die liberalen Staaten würden das Recht auf Abtreibung beibehalten, die konservativen es einschränken.

[Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie jeden Donnerstag auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty.]

Es ist aber gar nicht so einfach, ein solches Grundsatzurteil des Supreme Court zu kippen. Verfassungsrichter müssen „Precedents“, die Entscheidungen ihrer Vorgänger, respektieren. Bereits bei der Anhörung im Senat werden Kandidatinnen und Kandidaten danach gefragt. Wer dort antwortet, er oder sie sei fest entschlossen, „Roe vs Wade“ zu kippen, statt jeden Einzelfall, der vor den Supreme Court kommt, unvoreingenommen zu betrachten, würde wegen Befangenheit abgelehnt.

Auch Lagoa bietet Angriffsflächen: zu unternehmerfreundlich

Richter dürfen auch keine Loyalität zu dem Präsidenten zeigen, der sie ernannt hat. Für solche Einteilungen hat der Vorsitzende des Obersten Gerichts, John Roberts, Trump gerügt. Roberts wurde von einem Republikaner, George W. Bush, nominiert.

Barbara Lagoa, Tochter kubanischer Einwanderer, wäre etwas leichter vermittelbar.
Barbara Lagoa, Tochter kubanischer Einwanderer, wäre etwas leichter vermittelbar.
© AFP

Lagoa gilt als etwas weniger kontroverse Alternative. Sie käme als weitere Repräsentantin der größten Minderheit, der Latinos, an das Gericht. Auch ihre Bilanz als Richterin bietet den Demokraten freilich Angriffsflächen. Bei ihr geht es weniger um das Abtreibungsrecht; sie hat bei ihrer Anhörung als Bundesrichterin zugesichert, „Precedents“ zu respektieren. Lagoa hat jedoch das Stimmrecht verurteilter Gefangener bei Wahlen eingeschränkt und bei Prozessen um die Erhöhung der Mindestlöhne in Florida den Wirtschaftsinteressen den Vorrang gegeben.

Auch bei Klagen verschuldeter Hauseigentümer gegen Zwangsversteigerungen und von Arbeitnehmern gegen die Konzernführungen von Uber und Caterpillar wurden ihre Urteile als zu unternehmensfreundlich kritisiert. Lagoa hat drei Töchter, darunter Zwillinge. Auch ihr Mann Paul Huck ist Jurist und dessen Vater Richter. Sie gilt als zurückhaltend und kollegial.

Ihre Kandidatur wird von einer breiten Koalition auch moderater Republikaner in Florida unterstützt, darunter Mitarbeiter Jeb Bushs, des Ex-Gouverneurs von Florida, der Trump bei der Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur 2016 unterlag. Doch vielleicht präsentiert Trump am Ende eine ganz andere Kandidatin. Er liebt es, nicht ausrechenbar zu sein, und ist immer für eine Überraschung gut.

Zur Startseite